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Parasite (2019) Review

© capelight pictures

In seinem Buch „Gewalt: Sechs abseitige Reflexionen“ aus dem Jahr 2011 schreibt Slavoj Žižek über die anti-kommunistische, russische Intellektuellenfamilie Lossky, die 1922 im Nachgang der Oktoberrevolution aus der Sowjetunion vertrieben wurde:

„Die Losskys und ihresgleichen haben ’nichts Böses getan‘. Es gab keine persönliche Schuld in ihrem Leben, nur den unsichtbaren Hintergrund der systemischen Gewalt. (…) Losskys Sohn wurde von einem Schulkameraden, der aus der Arbeiterklasse stammte, brutal verspottet, als dieser ihm ins Gesicht brüllte, dass ’seine Tage und die seiner Familie nun gezählt seien‘. (…) Was [die Losskys] dabei nicht verstanden, war, dass sie in Gestalt dieser irrationalen subjektiven Gewalt nun eine Botschaft erhielten, die sie selbst ausgeschickt hatten, doch nun in deren verkehrter wahrer Form retourniert erhielten.“ (1)

Doch was ist systemische Gewalt? Nochmals Žižek: „Wir sprechen hier von einer Gewalt, die systemimmanent ist. Es geht dabei nicht nur um unmittelbare körperliche Gewalt, sondern vielmehr um die subtilen Formen des Zwangs, der die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse aufrechterhält, was auch durch Androhung von Gewalt geschehen kann.“ (2) Systemische Gewalt ist folglich ein durch das kapitalistische Wirtschafts- und Klassensystem sowie die damit verbundenen Ausbeutungsverhältnisse determinierter und quasi „unsichtbarer“ Rahmen, an dessen Aufrechterhaltung jeder beteiligt ist, der von diesem Rahmen profitiert und nichts dafür tut, ihn zu ändern. Bong Joon-hos großartige Satire „Parasite“ macht genau diese Gegebenheiten zu seinem thematischen Hintergrund und entwirft ein subtiles sowie gleichzeitig komplexes Netz aus gesellschaftlichen und individuellen Fragestellungen.

Die Losskys aus dem Beispiel von Žižek ist hierbei die reiche Oberschichtfamilie Park. Sie leben in einem gigantischen Haus in einer gated community, fernab von den sozialen Problemen Südkoreas, die wiederum die Familie Kim am eigenen Leib erfährt, welche in einer maroden und kleinen Kellerwohnung haust. Durch einen Freund ergattert Ki-woo (Choi-woo Shik), der Sohn der Familie Kim, eine Stelle als Englischlehrer für Da-hye (Jeong Ji-so), die Tochter der Familie Park – obwohl er keinerlei Ausbildung oder Erfahrung in diesem Bereich hat. Nach und nach organisiert Ki-woo seinen anderen Familienmitgliedern unter falschem Namen und unter Verheimlichung der Familienverhältnisse verschiedene Jobs im Hause der Familie Park – der Schwester Ki-jung (Park So-dam) als Kunstlehrerin, dem Vater Ki-taek (Song Kang-Ho) als Chauffeur und der Mutter Chung-sook (Jang Hye-jin) als Haushälterin und Köchin, weswegen sie zunächst durch elaboriert geplante Komplotte dafür sorgen, dass der ursprüngliche Chauffeur und die ursprüngliche Haushälterin gefeuert werden. Doch weswegen ähneln sich nun die Familie Park und die Familie Lossky? Nicht etwa, weil die Familie Park irgendwann aus Südkorea ausgewiesen wird, die Gemeinsamkeit liegt stattdessen in der Art und Weise der Struktur ihres Weltbildes.

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Denn der Familie Park fehlt jedes Gespür für die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die das System produziert, von welchem sie wiederum profitieren. Die Familienmitglieder sind freundlich, herzlich und offen, sie sind weltgewandt, zuvorkommend und großzügig. Doch wie Žižek an anderer Stelle schreibt: „Der Witz ist freilich, dass man, um geben zu können, erst einmal nehmen muss (…).“ (3) Natürlich ist Familie Park nicht „direkt“ Schuld am Elend der Familie Kim, doch tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die größeren strukturellen Zusammenhänge, so tragen sie durchaus auf indirekte Weise einen Teil der Verantwortung, quasi „über mehrere Ecken“. Dabei ist es wichtig, die beiden Familien als stellvertretend für ihre jeweilige gesellschaftliche Schicht zu lesen: Der Wohlstand, den die Oberklasse (als Ganzes) besitzt, er fehlt an anderer Stelle, um soziale Probleme angehen zu können; das Geld für deren Lösung wäre ja grundlegend da. Das Vermögen ist nur deshalb so ungleich verteilt, da es auf der Ausbeutung der einen Schicht durch die andere basiert, da es niemals ausschließlich durch einen selbst erarbeitet wird, sondern bereits immer die Arbeit anderer beinhaltet. Und auch wenn diese Form der Organisation in hierarchischen Arbeitsverhältnissen erst einmal quasi per definitionem mit enthalten ist: Niemand tut eine Arbeit, die den tausendfachen Wert der Arbeit einer anderen Person besitzt.

Bereits die Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Aufstieg sind von vornherein ungleich verteilt. Auch hier knüpft „Parasite“ an, indem er genau diesen Aufstiegsmythos dekonstruiert. Denn die Familie Kim könnte auch dann, wenn sie sich unmenschlich anstrengen würde, niemals zu einem solchen Reichtum kommen, wie ihn die Familie Park besitzt. Die einzige Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstieges besteht somit darin, eben nicht nach den Regeln des Systems zu spielen (wie es Familie Kim dann auch tut), wobei dafür wieder andere Menschen ihre Jobs verlieren (der Chauffeur und die Haushälterin). Die Ellenbogengesellschaft ist so tief im Denken verankert, dass sie die (eigentlich notwendige) Solidarität verdrängt. Des einen Freud ist des anderen Leid. Jeder kann es schaffen, „aber nun einmal nicht alle“, um ein Bonmot des Kabarettisten Volker Pispers zu paraphrasieren. Vereinfacht formuliert: Familie Kim hätte in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem niemals eine Chance, den Reichtum der Familie Park zu erreichen, was sie auch tun würde.

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Nebenbei ist „Parasite“ übrigens ein unglaublich ästhetisch inszenierter, oftmals auf hintergründige Weise sehr witziger und vor allem enorm spannender Film, ein Thriller im besten Sinne. Nicht nur die ganz grundlegende Frage, ob Familie Park der Familie Kim irgendwann auf die Spur kommt, erzeugt eine den ganzen Film überspannende Stimmung der Suspense durch das Gefühl, es könne jederzeit alles passieren. Auch lässt Bong Joon-ho eine ganze Reihe einzelner Szenen auf den Zuschauer los, die jeweils für sich einen geradezu mustergültigen Spannungsaufbau durchziehen: Wenn etwa Familie Kim den Urlaub der Familie Park ausnutzt, um einige Tage in deren Haus zu leben, dann jedoch Familie Park aufgrund des schlechten Wetters zu früh heimkehrt, ihr Sohn daraufhin im Garten zeltet und Familie Kim sich die ganze Nacht unter dem Wohnzimmertisch verstecken muss, da sie es nicht rechtzeitig aus dem Haus geschafft hatte und die Park-Eltern aus Sicherheitsbedenken das Wohnzimmer nicht verlassen, um ihren Sohn durch die Fenster beobachten zu können, dann dürfte dies eine der spannendsten Szenen des Kinojahres darstellen. Auch das recht schonungslos durchgezogene, sehr konsequente Ende ist nicht nur ein politisches Statement, sondern auch eine inszenatorische Meisterleistung.

Es ist ein Film gewordener Klassenkampf und dieses Mal macht Bong Joon-ho alles richtig. Im Gegensatz zu seinem sehr plakativen und eher mäßig überzeugenden Vor-Vorgänger „Snowpiercer“ (2013) hat er mit „Parasite“ einen hintergründig-subtilen und gerade dadurch subversiven Film geschaffen, der das Politische und das Populäre gemeinsam denkt und scharfsinnig sowie gleichzeitig ungemein unterhaltsam ist. Er ermöglicht einen Diskurs, da er nicht mehr nur das Klassensystem als solches abbildet, sondern zudem auch dessen fatale Mechanismen und Funktionsweisen seziert. Dass dieser Film sowohl in Cannes des Goldene Palme gewann als auch den historischen Oscar-Triumph als erster nicht-US-amerikanischer Bester Film feiern durfte, ist ein interessantes Signal. Die beste Zusammenfassung liefert der Regisseur selbst: „In today’s capitalistic society there are ranks and castes that are invisible to the eye. We keep them disguised and out of sight and superficially look down on class hierarchies as a relic of the past, but the reality is that there are class lines that cannot be crossed.“

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Die Edition: capelight pictures setzt seinen Fokus auf das südkoreanische Kino fort und veröffentlicht „Parasite“ dabei sowohl in der altbekannten Mediabook-Reihe (mit Blu-ray, UHD-Blu-ray und Bonus-Blu-ray) als auch als Standard-DVD und Standard-Blu-ray. Als Bonusmaterial der Mediabook-Version werden zunächst einige Interviews bzw. Q&As mit Bong Joon-ho sowohl vom Filmfest München als auch vom Toronto International Filmfestival (TIFF) geboten, wobei die „Masterclass“ über die Arbeitsweise, die Einflüsse und die Ansichten des Regisseurs hervorzuheben ist; daneben zwei knappe Featurettes, ein Making-Of und ein Behind-the-Scenes (beide leider sehr kurz) sowie einige entfallene Szenen.

Autor: Jakob Larisch

(1) Žižek, Slavoj: Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen. Hamburg 2011, S. 17f.
(2) ebd., S. 17.
(3) ebd., S. 25.

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