
© capelight pictures
Die beginnenden 1970er-Jahre waren eine Hochzeit des Katastrophenfilms. Parallel zur neu entstandenen filmischen Strömung des New Hollywood, dem es um eine kritisch-progressive Erneuerung des US-amerikanischen Kinos ging, gab es ebenso Filme, die sich neue Freiheiten in der Darstellung zunutze machten, aber gleichzeitig nicht verschleierten, dass es ihnen primär um Unterhaltung ging, um Entertainment. Filme wie „Airport“ (1970), „Die Höllenfahrt der Poseidon“ (1972), „Flammendes Inferno“ (1974) und eben „Erdbeben“ (1974) lassen sich somit als direkte Vorläufer des Blockbusterkinos bezeichnen, der ab Mitte der 1970er-Jahre mit „Der Weiße Hai“ (1975) und insbesondere „Star Wars“ (1977) seinen Siegeszug begann. Die Katastrophenfilme der damaligen Zeit waren meist mit vielen Stars gespickt und in einem Zeitraum von in der Regel um die oder über zwei Stunden als Ensemblefilm erzählt; viele Figuren, die im Angesicht der titelgebenden Katastrophe irgendwann zusammenkommen und (meist) vereint das Unglück bekämpfen müssen.
„Erdbeben“ macht im Gegensatz zu den anderen genannten Vertretern bereits durch seinen Titel deutlich, worum es primär geht: Ein Erdbeben ereilt Los Angeles, was der Film anhand verschiedener Figuren und Schauplätze bebildert. Da ist der Architekt Stewart (Charlton Heston), der seine Frau Remy (Ava Gardner) mit der Schauspielerin Denise (Geneviève Bujold) betrügt. Da ist der Polizist Lou (George Kennedy), der aus dem Dienst entlassen wird, jedoch während des Erdbebens als Helfer seine Berufung neu findet. Da ist der Stuntman Miles (Richard Roundtree), der unbedingt Geld braucht, um seine Stunt-Show auf die Beine zu stellen. Und da sind die Mitarbeiter des Hollywood-Staudamms, die Seismologen und der Bürgermeister, welche die Vorbeben einzuordnen versuchen, um hinterher der durch das Erdbeben ausgelösten Krise richtig zu begegnen.
All diese (und noch einige weitere) Schicksale sind dabei miteinander verknüpft, die Figuren begegnen sich, interagieren miteinander und bewältigen die Folgen des Erdbebens mal besser, mal schlechter. Die Dramaturgie wirkt allerdings immer wieder (und gerade zu Beginn) etwas zerfasert, was einerseits mit der Etablierung der einzelnen Figuren zusammenhängt und man andererseits spürt, dass der Film um die verschiedenen Katastrophenszenen herum konstruiert wurde. Licht und Schatten wechseln sich ab: So ist die Exposition trotz der Laufzeit von zwei Stunden zunächst zu lang geraten, die Figuren werden mit teils sehr groben Pinselstrichen, teils wiederum kaum charakterisiert, dabei gibt es immer wieder Momente, die derart plakativ geraten sind, dass sie eine Geschlossenheit der Erzählung kaum zustande kommen lassen. Ein Beispiel: Der Polizist Lou verfolgt in einer Verfolgungsjagd einen Mann, der ein Mädchen überfahren und getötet hat. Kaum verlassen sie die Stadtgrenze, fährt ihnen der Sheriff aus dem County hinterher, faselt etwas von Zuständigkeiten und beschwert sich darüber, dass Lou die Hecke des Hauses von Zsa Zsa Gabor zerstört hat (was in Wirklichkeit der verfolgte Mörder war). Da gibt es niemanden, der den Sheriff im Angesicht der Schwere des Verbrechens zurückpfeift? Lou wird durch seine Chef, auch nachdem er ihm den Sachverhalt erklärt hat, suspendiert? Seine Frustration mit dem Polizeiapparat hätte man doch nicht derart platt etablieren müssen. Auch die anderen Figuren bleiben seltsam unnahbar und flach, so dass es schwerfällt, im Angesicht der eintreffenden Bedrohung eine Bindung zu ihnen aufzubauen. Ava Gardner ist nurmehr ein Schatten ihrer selbst, auch Richard Roundtree kann seinen „Shaft“-Charme nicht aktivieren. Am ehesten lebensnah ist noch die Affäre zwischen Charlton Heston und Geneviève Bujold, was an der nachhaltigen Leinwandpräsenz ausdrücklich beider Darsteller liegt. Es wirkt verständlich, warum sich die beiden zueinander hingezogen fühlen, ebenso wie ihre Entscheidungen im weiteren Verlauf der Geschichte glaubhaft und einleuchtend sind. Damit stellen die beiden jedoch leider eine Ausnahme im namhaften Cast dar.

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Dem gegenüber stehen exzellent inszenierte Schauwerte; das erste Beben streckt sich beispielsweise über eine Erzählzeit von mehreren Minuten und wird durch eine Beschleunigung des Montagerhythmus mustergültig vorbereitet. Hier funktioniert dann auch das Verweben der einzelnen Schicksale, hier wird die Gefahr greifbar, spürbar, erfahrbar, was auch an den großartigen Effekten liegt. Die weniger effektlastig in Szene gesetzten Folgen des Erdbebens sind zunächst ebenfalls spannend erzählt, da der Film das Tempo merklich anzieht, schneller zwischen den Figuren hin- und herspringt und immer wieder neue Plot-Stationen aufmacht. Auch hier geht „Erdbeben“ aber mit der Zeit die Puste aus, wobei sich der Film gerade rechtzeitig in seinen durchaus packenden und fulminant inszenierten Showdown retten kann. Die Gefahr wird wieder greifbar, denn jederzeit kann es ein Nachbeben geben. An dieser Stelle auf das Motiv der Last-Minute-Rescue zu setzen, ist zwar nichts Neues, wird aber äußerst effektiv umgesetzt.
Am Ende des Tages lebt „Erdbeben“ durch seine Schauwerte und auf dieser Ebene des Spektakulären liefert der Film zweifellos, auch wenn er auf dramaturgischer Seite sowohl zu Beginn als auch zwischendurch einige Längen aufweist, die sich auch nicht durch veränderte Sehgewohnheiten seit 1974 entschärfen lassen. Doch bleibt „Erdbeben“ gerade im Kontext des Kinos der beginnenden 1970er-Jahre definitiv ein Klassiker. Und die Atmosphäre der damaligen Zeit, die fängt er ganz mustergültig ein.

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Die Edition: capelight pictures veröffentlicht „Erdbeben“ in der altbekannten Mediabook-Reihe (und parallel als Single-DVD), wobei der Film in der Kinofassung und erstmals in Deutschland in einer um eine halbe Stunde erweiterten TV-Fassung vorliegt. Auch wenn die Kinofassung klar vorzuziehen ist, so ist die Mühe, die man hier mit Blick auf Fragen der Vollständigkeit investiert hat, vorbildlich. Als Bonus gibt es (neben dem obligatorischen Booklet und den Trailern) drei sehr informative Features über a) die Filmmusik, über b) die in der Tat beeindruckenden Matte Paintings und über c) die Hintergründe und Machart des in diesem Film erstmals eingesetzten Sensurround-Verfahrens, das damals im Kino das Gefühl eines echten Erdbebens vermitteln sollte.
Autor: Jakob Larisch