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Run – Du kannst ihr nicht entkommen (2020/2021) Review

© Leonine

Mit seinem Langfilm-Regiedebüt „Searching“ landete Aneesh Chaganty 2018 einen Überraschungserfolg: Bei einem Budget von gerade einmal 880.000 US-Dollar spielte der Film weltweit rund 75,5 Millionen US-Dollar ein. Ein Grund für den großen Erfolg des Thrillers dürfte sein ästhetisches Konzept gewesen sein, das auch nach Filmen wie „Megan Is Missing“ (2011) und „Unknown User“ (2014) durchaus noch als unkonventionell bezeichnet werden kann: Als Desktopfilm folgte „Searching“ der fieberhaften Suche eines Vaters nach seiner verschwundenen Tochter ausschließlich über Computer- und Handybildschirme. Chagantys zweiter Thriller „Run“, für den er sich erneut mit Drehbuchautor Sev Ohanian zusammengetan hat, bedient sich nun einer vergleichsweise konventionellen Ästhetik, nimmt als Ausgangspunkt aber wie sein Vorgänger eine Eltern-Kind-Beziehung, hinter deren harmonischer Fassade nach und nach schwerwiegende Konflikte zutage treten. Nachdem die Corona-Pandemie dem Kinostart des Films einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, lief er im November 2020 beim amerikanischen Streamingdienst Hulu an. Mit dem (wie gewohnt sehr überflüssigen) deutschen Zusatztitel „Du kannst ihr nicht entkommen“ ist „Run“ seit dem 15. Januar 2021 nun auch hierzulande als Video-on-Demand sowie auf DVD und Blu-ray erhältlich. Sehenswert ist der Film, der nach etwa 60 Minuten leider einiges an Glaubwürdigkeit verliert, vor allem wegen seiner hochinteressanten Protagonistin und der exzellenten Hauptdarstellerinnen.

Die 17-jährige Chloe Sherman (Kiera Allen) lebt mit ihrer Mutter Diane (Sarah Paulson, „Ocean’s 8“, „Glass“) in Pasco, Washington. Da die Teenagerin wegen einer Lähmung der Beine im Rollstuhl sitzt und noch dazu Diabetes, schweres Asthma, eine Herzrhythmusstörung und weitere chronische Erkrankungen hat, benötigt sie eine umfassende Rund-um-die-Uhr-Betreuung, die ihre Mutter ganz alleine stemmt. Gewissenhaft achtet Diane darauf, dass ihre Tochter sämtliche Medikamente zur richtigen Uhrzeit einnimmt, ihre physiotherapeutischen Übungen korrekt ausführt und Schokolade nur dann isst, wenn ihr Blutzuckerspiegel es erlaubt. Um sie vor Anstrengungen zu schützen, die der Besuch einer normalen Schule mit sich bringen würde, erteilt Diane ihrer Tochter zudem Heimunterricht. Dass ihre Mutter der einzige Mensch ist, mit dem sie regelmäßig Kontakt hat, stört Chloe nicht. Trotz der Isolation haben die beiden Frauen ein entspanntes, freundschaftliches Verhältnis zueinander. Nachdem sich Chloe für ihr Traumcollege beworben hat, stellt sie jedoch fest, dass auf einem ihrer Medikamente der falsche Name steht. Als Diane hierfür keine überzeugende Erklärung geben kann und sich in Bezug auf Chloes Krankheitsgeschichte zunehmend in Widersprüche verstrickt, kommt der 17-Jährigen der schreckliche Verdacht, dass ihre Mutter sie absichtlich krank macht. Verwirrt und verzweifelt versucht Chloe, sich der Überwachung durch die immer obsessiver handelnde Diane zu entziehen. Diese denkt jedoch gar nicht daran, ihre Tochter gehen zu lassen.

Die Frage, ob Diane ihre Tochter wirklich vergiftet, ist zumindest aus Zuschauer:innensicht relativ schnell geklärt. Spannend ist von Beginn an eher die Frage, wann und wie die Wahrheit über Chloes Krankheiten ans Licht kommen und welche Folgen dies für das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter haben wird. Dabei beweist Chaganty wie schon in „Searching“ sein Talent dafür, auf den ersten Blick eher wenig spektakuläre Momente mit simplen filmischen Mitteln und einem guten Gespür für das richtige Timing maximal fesselnd zu inszenieren. Vor allem die frühen Szenen des Films, in denen Chloe Nachforschungen über ihre Medikamente anstellt, sind überaus gekonnt umgesetzt und sorgen für einiges an Nervenkitzel.

© Leonine

Dass man fast nicht anders kann, als bei Chloes Nachforschungen und Fluchtversuchen mit ihr mit zu fiebern, liegt jedoch auch und vor allem daran, dass die scharfsinnige und mutige Teenagerin ein ausgesprochen interessanter Charakter ist. Bemerkenswert ist insbesondere, wie erfrischend subtil die Figur mit verschiedenen Darstellungskonventionen bricht. Ihre Freizeit verbringt Chloe am liebsten damit, an selbst gebauten elektronischen Geräten herumzubasteln, und aufs College will sie nicht, weil dort Jungs und Partys warten, sondern einfach nur, weil sie sich bilden und unabhängig sein will. Chloes Selbstgenügsamkeit geht aber nicht wie beim stereotypen „nerd girl“ mit Schüchternheit, Verschlossenheit und sozialer Inkompetenz einher, sondern mit einem selbstbewussten und freundlichen Auftreten, das alles andere als „socially awkward“ ist. Dass sie trotz weitgehender Isolation über eine beeindruckende Menschenkenntnis verfügt und außerdem weiß, wann sie stereotype Weiblichkeit zu ihrem Vorteil einsetzen kann, beweist Chloe, als sie am Telefon der männlichen Eitelkeit eines Fremden schmeichelt und ihn so dazu bringt, für sie die Wirkungsweise eines ihrer Medikamente zu googeln. Auch im Hinblick auf ihre Behinderungen zeichnen Chaganty und Ohanian ihre Hauptfigur frei von Klischees und ohne jemals einen voyeuristischen, mitleidigen oder überhöhenden Blick auf sie zu richten. Chloe ist weder das „hilflose Opfer“, das „unter seinen Behinderungen leidet“, noch der „Superkrüppel“, der „trotz“ oder gerade „wegen“ seiner Behinderung über beeindruckende bis übermenschliche Fähigkeiten verfügt. Chloes Intelligenz, ihre Kreativität und der Mut, mit dem sie sich gegen ihre Mutter auflehnt, sind zwar ohne Frage bemerkenswert, werden aber nie auf ihre Behinderungen zurückgeführt oder ausschließlich über diese definiert. Auch akzeptiert Chloe ihre Erkrankungen einfach als Teil ihrer Lebensrealität, anstatt sie „überwinden“ oder „besiegen“ zu wollen. Obwohl die Handlung von „Run“ auf der Möglichkeit aufbaut, Chloes Behinderungen könnten künstlich herbeigeführt und folglich tatsächlich „überwindbar“ sein, suggeriert der Film an keiner Stelle, ein glückliches Leben sei nur oder eher mit einem gesunden, der Norm entsprechenden Körper möglich. Selbst als Chloe erkennt, dass ihre Erkrankungen Vergiftungserscheinungen sein könnten, strebt sie nicht primär nach einem gesunden Körper, sondern vor allem nach Aufklärung und Selbstbestimmung.

Die Besetzung von Kiera Allen, die in „Run“ ihre erste Filmrolle überhaupt spielt, ist nicht nur deshalb eine Erwähnung wert, weil die Newcomerin eine unglaublich starke Performance abliefert und Chloes Emotionen von Angst und Verunsicherung über Verzweiflung und Wut bis hin zu absoluter Entschlossenheit wahnsinnig glaubhaft darstellt, sondern auch, weil sie sich gegen die in der Filmindustrie allzu gängige Praxis wendet, Filmfiguren mit Behinderung von Darsteller:innen spielen zu lassen, die selbst keine Behinderung haben. Diskussionen um diese Besetzungspraxis, die sich zum Beispiel bei „Ziemlich beste Freunde“ (FR 2011), „Ein ganzes halbes Jahr“ (USA 2016) und „Die Goldfische“ (DE 2019) beobachten lässt, kreisen oft um die Frage, ob nicht auch Schauspieler:innen ohne Behinderung glaubhafte Darstellungen von Menschen mit Behinderung abliefern könnten und ihre Besetzung bei bestimmten Rollen nicht auch aus ethischen Gründen geboten sei. Beides sind durchaus valide Punkte. Fakt ist aber auch, dass Schauspieler:innen mit Behinderung die Berufsausübung unglaublich erschwert wird, wenn sie nicht einmal in den wenigen Filmen, in denen überhaupt Charaktere mit Behinderung vorkommen, besetzt werden. Dass Kiera Allen seit Susan Peters in „The Sign of the Ram“ von 1948 die erste im Rollstuhl sitzende Schauspielerin ist, die eine Rolle in einem Hollywood-Thriller erhalten hat, spricht insoweit für sich. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch auch die hervorragende Leistung von Sarah Paulson. Die Ausnahmedarstellerin, die in ihrer Karriere schon oft in janusköpfigen Rollen brilliert hat, spielt Dianes beängstigend schnelles Wechseln von liebevoll-fürsorglich zu grausam-berechnend und wieder zurück mit einer solchen Intensität, dass gewisse Schwächen in der Zeichnung ihres Charakters einfach in den Hintergrund treten.

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Schade ist, dass „Run“ sein Thema nicht mit einer Gesellschaftskritik oder wenigstens -analyse verbindet. So hätte beispielsweise die Frage gestellt werden können, ob das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das nahezu ausnahmslos Frauen und meistens Mütter betrifft, etwas mit den Erwartungen zu tun haben könnte, die unsere Gesellschaft an eben diese Gruppe stellt. Immerhin wird das Bild der aufopferungsvollen Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse völlig hinter die ihres Kindes zurückstellt, auch über 80 Jahre nach King Vidors „Stella Dallas“ (USA 1937) noch stark idealisiert – und vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom betroffene Mütter, die sich aufgrund der „Erkrankungen“ ihres Kindes besonders intensiv kümmern müssen, erfüllen dieses Bild nach außen hin geradezu mustergültig. Dass Dianes Verhalten aus dem Bedürfnis resultiert, gebraucht und für die eigene Selbstlosigkeit bewundert zu werden, wird in „Run“ durchaus erkennbar, jedoch nie in Bezug zu sozialen Normen gesetzt. Stattdessen überrascht der Film nach einer Stunde mit einem Twist, der für Dianes Verhalten eine sehr individuelle Erklärung gibt. Das ergibt grundsätzlich natürlich Sinn, denn schließlich erkranken Mütter nicht NUR aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Trotzdem wäre es wünschenswert gewesen, wenn „Run“ wenigstens etwas vom gesellschaftskritischen Potential der Thematik genutzt und den möglichen Zusammenhang zwischen Dianes psychischer Erkrankung und dem Idealbild der aufopferungsvollen Mutter zumindest angedeutet hätte.

Der soeben erwähnte Twist markiert leider auch den Punkt, ab dem „Run“ zunehmend an Plausibilität verliert. Fast scheint es so, als würden Chaganty und Ohanian ihrer Strategie, Spannung durch einen starken Fokus auf die Charaktere und den subtilen Einsatz filmischer Mittel zu erzeugen, nach einer Stunde plötzlich nicht mehr vertrauen und dem Publikum in den letzten Minuten auf Teufel komm raus noch möglichst viele dramatische und actionreiche Wendungen präsentieren wollen. Dass man während des abenteuerlichen Showdowns nicht nur noch die Augen verdreht, ist oft einzig den überzeugenden Performances von Allen und Paulson zu verdanken. Das ärgerlichste an „Run“ ist jedoch seine letzte Szene. Offenbar nur, um die Zuschauer:innen kurz vor Ende des Films noch einmal ordentlich zu schocken, lassen Chaganty und Ohanian Chloes Figur eine Entwicklung nehmen, die weder zu ihrer Persönlichkeit noch zu ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit passt. Dass die Filmemacher Chloes so liebevoll aufgebauten Charakter derart unbekümmert der Effekthascherei opfern, ist wirklich bedauerlich.

© Leonine

Doch auch wenn die letzten 30 Minuten wirklich ziemlich verworren sind – dank seiner starken ersten Hälfte und den grandiosen Darstellerinnen ist „Run“ ein solider Thriller, der über eineinhalb Stunden einiges an Nervenkitzel und kurzweiliger Unterhaltung zu bieten hat. Sehenswert ist Aneesh Chagantys zweiter Langfilm jedoch vor allem wegen seiner hochinteressanten Hauptfigur, die subtil mit Gendernormen bricht und einen wertvollen Beitrag zur Repräsentation junger Frauen mit Behinderung leistet.

Autorin: Johanna Böther

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