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Hüter der Erinnerung – The Giver (2014) Review

© STUDIOCANAL

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Im Jahr 1993 erschien das Buch „The Giver“ (deutsch: Hüter der Erinnerungen) von Lois Lowry, ein Kinder- und Jugend-Science-Fiction-Roman, dem gelang, was vielen Autoren verwehrt bleibt: Der Roman war erfolgreich und landete auf Bestsellerlisten, wurde aber gleichzeitig auch von der Kritik angenommen und fand seither seinen Weg auf zahlreiche Lehrpläne innerhalb der Vereinigten Staaten, aber auch beispielsweise in Deutschland. 20 Jahre später wird der Roman verfilmt und wir stellen uns die Frage, ob der Film ebenso Kassen und Kritiker überzeugen kann.

Im Jahr 2048 ist die Menschheit von Kriegen und Konflikten zerrütet und so entscheiden sich einige Menschen dafür, eine neue Gesellschaft zu errichten. Durch moderne Technologien werden den Menschen alle Erinnerungen genommen, alle Aufzeichnungen der Vergangenheit werden unzugänglich gemacht, Farben, tiefgreifende Emotionen und Bedürfnisse werden durch morgendliche Injektionen unterdrückt. Berufe und Ehen werden von den „Ältesten“ bestimmt und Kinder entstehen im Labor (und nicht auf die gute alte Weise). Um aber nicht den alten Kardinalsfehler zu begehen, die Geschichte durch Vergessen wiederholen zu müssen, gibt es einen Menschen, der alle Erinnerungen in sich trägt und alle Geschichtsaufzeichnungen bewahrt, den titelgebenden „Hüter der Erinnerung“ (Jeff Bridges). Dieser lebt, genauso selbstgewählt wie aufgezwungen, in Isolation und berät die Ältesten in Entscheidungen, bei denen sein Wissen benötigt wird.

Der Protagonist des Films ist der junge Mann Jonas (Brendon Thwaites), der bis jetzt ein glückliches Leben mit seinen Eltern (Alexander Skarsgård und Katie Holmes) und Freunden Fiona (Odeya Rush) und Asher (Cameron Monaghan) führte. Dies ändert sich aber, als er nach seinem Schulabschluss auf der Zeremonie zur Berufswahl der Absolventen von der Chefältesten (Meryl Streep) erfährt, dass er ausgewählt wurde, der neue Hüter der Erinnerungen zu werden. Er begibt sich in die Asubildung beim bisherigen Hüter, der ihm nach und nach zeigt, dass die Welt, die Jonas kennt eine Lüge ist, dass es Farben, Tiere, Liebe, aber auch Hass, Tod und Krieg gab und diese immer noch im Menschen verankert sind. Verständlicherweise überwältigt von diesen Erkenntnissen und Gefühlen muss Jonas zusätzlich noch erleben, wie er aufgrund seines Wissens nicht mehr als Teil der Gesellschaft funktioniert und woran schon die vorherige Kandidatin gescheitert ist, die zur Hüterin ausgebildet wurde (Taylor Swift in ihrer zweiten Kinonebenrolle). Gemeinsam mit dem alternden Hüter fasst Jonas den Entschluss, die Gesellschaft sei von ihren Grundideen abgekommen und schmiedet einen gewagten Plan, den Menschen ihre Erinnerungen zurück zu geben.

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Unter der erfahrenen Regie von Phillip Noyce, der in seinen bisherigen Werken (unter anderem „Salt“, „Die Stunde der Patrioten“, „Das Kartell“) bereits gezeigt hat, dass er Blockbuster-Ambitionen mit politischen und gesellschaftlichen Themen verbinden kann, entwickelt sich der Film sorgfältig aber nicht langsam, sehr unterhaltsam und teilweise wunderschön. Mit Staunen lernen wir die neue Gesellschaft kennen und lachen über das Absurde einer uns fremden Welt (der Kuscheltier-Elefant von Jonas kleiner Schwester wird vom Vater „Kuschelobjekt“ genannt und fachmännisch als ein Fabelwesen namens Nilpferd identifiziert, das aufgrund seiner fünf Beine besonders schnell rennen könne).

Vor allem visuell liefern Kamera, Schnitt und Visual Effects hier eine überdurchschnittliche Gemeinschaftsleistung ab, nicht nur im Design der Gemeinschaft, die in Architektur und Farbgebung aussieht, als entspringe sie einem Traum des verstorbenen Steve Jobs. Auch im Wechsel von Schwarz-Weiß (fast die gesamten ersten 20 Minuten des Films sind ohne Farbe) zu Farbe zeigt sich, dass es sich nicht nur umd eine weitere Jugendroman-Verfilmung aus rein wirtschaftlichen Interessen handelt, sondern dass das Kino der Geschichte durchaus neue Elemente hinzufügen kann. So erzeugt die Szene, in der Jonas das erste Mal wirklich Farben wahrnimmt, noch dazu einen atemberaubenden Sonnenaufgang auf dem Meer, eine Gänsehaut, wie sie der Autor schon länger nicht mehr im Kino gespürt hat. Überhaupt geizt der Film nicht mit kleinen clipartig aneinandergeschnittenen Sequenzen, die die Erinnerungsübertragungen zwischen den zwei Hütern verdeutlichen sollen und die an bekannte „People are awesome“-YouTube-Videos erinnern (durchaus positiv gemeint). Diese nutzen sich zwar im Verlauf des Films etwas ab, verbinden sich aber in der ersten Hälfte des Films zusammen mit den durchaus komplexen Fragen und Sachverhalten, die sich dem Zuschauer und Protagonisten offenbaren, zu einem gesamtwerk, dass Gefühle, Sinne und Gedanken gleichermaßen anspricht und in Atem hält. In der ERSTEN Hälfte des Films.

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Ohne das Ende vorwegnehmen zu wollen, lässt sich mit Gewissheit sagen, dass es sich um die schlechtesten, unlogischsten und unpassendsten 20 Minuten handelt, die seit langem und vielleicht jemals einen bis dahin guten bis sehr guten Film misshandelt haben. Zweifellos gilt die alte Regel, dass das Ende immer am schwersten zu erzählen ist und es sollte auch eine Treue zum Buch gewahrt werden, auch wenn man sich vorher nicht die Zeit nehmen konnte, alle Zusammenhänge zu erklären. Aber DAS war wirklich furchtbar. Der Film wäre besser, hätte man ihn einfach beendet, bevor Jonas völlig unmotiviert MIT EINEM SÄUGLING eine finale Reise durch Wüsten, verschneite Gebirge, inklusive Motorradverfolgungsjagden und Stürzen aus Flugzeugen unternimmt, um in den letzten Minuten des Films die gesamte in sich schlüssige Logik der Welt außer Kraft zu setzen. MIT EINEM SÄUGLING.

In der Kritik zum Buch schreibt Natalie Babbitt in der Washington Post: „The story has been told before in a variety of forms […].It’s well worth telling, especially by a writer of Lowry’s great skill. If it is exceedingly fragile—if, in other words, some situations do not survive that well-known suspension of disbelief—well, so be it. The Giver has things to say that cannot be said too often, and I hope there will be many, many young people who will be willing to listen.”

Ähnlich verhält es sich mit dem Film: Die Geschichte ist nicht neu, aber gut, die Fragen und Aussagen des Films sollten immer wieder aufgegriffen werden und sind für jeden Menschen relevant. Der Film unterhält gleichzeitig und bietet mehr als solide Filmemacher- und Schauspielkunst (vor allem zweier altehrwürdiger Schauspielikonen). Das Ende macht allerdings vieles kaputt und sollte nur den Kinobesuchern gefallen, die dringend auf Toilette mussten oder früher gehen, um noch einen Bus zu erwischen.

Trotzdem ein Film, der vor allem ein jüngeres Publikum anspricht, aber auch alle anderen Zuschauer gelegentlich zum Staunen, Lachen und Nachdenken anregt. In den Kriterien von wirsindmovies, deren Erinnerung auch in der fernen dystopischen Zukunft noch bewahrenswert sind: 6/10.

Autor: Laszlo Horvath

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