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Zum 70. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder: Rainers Reise #5 – An einem Punkt der Grausamkeiten angelangt

© STUDIOCANAL Home Entertainment

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Mogadischu, die Schleyer-Ermordung, der Tod der Stammheimer Häftlinge: Die junge BRD und ihre demokratische Grundordnung werden im Herbst 1977 bis an ihre Grenzen belastet. Eine Gruppe junger Menschen hat dem Staat unlängst den Krieg erklärt: Bürgerkriegsähnliche Zustände prägen das Straßenbild, die Anschläge der RAF die Schlagzeilen. Die undifferenzierte Kriminalisierung jeglicher Kritik an der Gesellschaft oder noch schlimmer, Sympathie mit den Idealen der RAF, schüren Terror-Hysterie, Furcht und Angst. Das Staatssystem der Überwachung hat sich in seiner Struktur längst verselbstständigt, jeder Bürger wird zu einem Wachturm der Justiz1, kontrolliert durch das Sehen und Gesehen-Werden jeden Zentimeter der Bundesrepublik. Jeder ist ein potenzieller Terrorist, jeder kann einer der Personen auf den Fahndungsbildern sein. Es ist unlängst ein bestimmter Punkt der Grausamkeit erreicht, an dem es gleich ist, wer sie begangen hat. Es soll nur aufhören.

Diese Worte, sie sollen von Frau Wilde, fünf Kinder, am 8. April 1945 kurz vor Kriegsende stammen, dienen einer Reihe junger Filmemacher des „Neuen Deutschen Films“ als Rahmung ihres Omnibusfilms „Deutschland im Herbst“. Am Ende der zwei Stunden Spiellaufzeit steht das Zitat wieder an gleicher Stelle, blauer Hintergrund, weiße Schrift, doch diesmal ist die Quellenangabe ausgelassen. Es ist einfach zu erkennen, was die Botschaft sein soll: Eine anti-faschistische Revolution in Deutschland hat es nie gegeben und das verzweifelte Nachholen dieser durch einige wenige Radikalisierte zeigt die lange, ununterbrochene Geschichte des Faschismus in der BRD. Wenn in den letzten Minuten des Films „Here’s to you“ zu hören ist, eine Art Hymne für Opfer politischer Justiz, ist der Fingerzeig unübersehbar. Baader, Ensslin und Raspe wurden ermordet. Vom Staat.

Auch Rainer Werner Fassbinder zählt zu den Filmemachern dieses Kollektivs, die spontan und zügig entschieden, jetzt zu handeln. Doch verweigert er sich der grundlegenden Zustimmung der Symmetrie-Achse zwischen dem Nazi-Regime und der BRD, zwischen dem Begräbnis des von Bonn geopferten Arbeitgebervertreters Hanns Martin Schleyer und Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der vom eigenen (NS-)Regime zum Suizid gezwungen wurde, sowie der doppelten Vater-Sohn-Achse, die sich um Schleyers und Rommels Sohn dreht. Diese Absage hat einerseits mit einem gewissen Weitblick, andererseits mit Fassbinders Ablehnung einfacher politischer Positionen zu tun, die an manchen Stellen gar in einem Dilemma münden.

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Während die Rahmung der Begräbnisse so wie viele andere Episode Polarisation und Spannung durch die Assoziationsfähigkeit ihrer Bildmontagen erzeugen (wollen) – zweifellos gelingt dies in vielen Situationen, z.B. bei der kontradiktorischen Verschmelzung von Ton (Lesung eines letzten Briefes Schleyers an seine Familie) und Bild (Darstellung des Schleyer-Begräbnis) – exponiert sich Fassbinder lieber selbst. Er stellt sich semi-dokumentarisch dar, halb voyeuristisch, halb exhibitionistisch, immer im Mittelpunkt, leidend, schreiend, koksend, kotzend, onanierend, weinend. Er subjektiviert sein Empfinden in radikalster Form, lässt Leben und Werk, Künstler und Fiktion verschmelzen2 und verhindert dadurch etwas, was den anderen Episoden zum Teil vorgeworfen werden kann: Populismus, Simplifizierung, Festlegung. Seine Episode ist das Bedürfnis am eigenen Leib und am eigenen Leben die Gegenwart zu verstehen3, kein großes Bild zu entwerfen, sondern über den eigenen Körper Geisteshaltung und Atmosphäre eine Stimme zu verleihen, eine Version davon zu vermitteln, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht und wieso daraus eine solche Schockstarre resultiert.

Dazu entwirft er ein präzises Gespräch mit seiner Mutter als Vertreterin der Zeit des Nationalismus und gleichzeitig der jetzigen BRD, eine Problematisierung und Hinterfragung eines gegenwärtigen konservativen Konformismus, der zu Ende gedacht lieber einen netten Hitler als autoritären Herrscher an der Spitze des Staates wünscht, statt sich immer Sorgen darum zu machen, was mit der gesagten Kritik eigentlich passiert, wenn sie denn mal ausgesprochen ist. Wie Liselotte Eder hier die innere Zerrissenheit zwischen Angst vor Repressionen, dem Wunsch nach Lynchjustiz und der Gebundenheit an die Grundsätzen der demokratischen Ordnung darstellt, ist großartig gespielt. Fassbinder setzt diese Interviewsequenzen mit einem exakten Gefühl für Timing und Pointe perfekt in Szene und montiert parallel dazu sein Dahinvegetieren in der eigenen Wohnung in München. Erst kokst er, dann glaubt er die Polizei zu hören und vernichtet die Drogen. Ein Trugschluss. Am gleichen Abend sucht ein junger Student ein Dach über den Kopf und wird von ihm rausgeschmissen, er könnte ja ein Terrorist sein. Fassbinder zeigt hier in Double-Bind-Struktur grundlegende Sympathie für die Ideale der Terroristen und gleichzeitig Angst vor ihrer physischen Präsenz sowie der unmittelbaren Bestrafung die daraus folgt, und die Fassbinder selbst nicht einschätzen kann. Halten sich die Polizisten noch an die Gesetze? Oder ist Willkür im Spiel, weil es um Emotionen geht?

Fassbinder rahmt nicht, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen, er macht sichtbar, was scheinbar niemand sieht. Eine zutiefst geprägte Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft, die wie er in seiner Wohnung, isoliert vom Rest in einem riesigen Gefängnis namens BRD, auf Erlösung und Schuldenerlass wartet. Doch wie soll Versöhnung stattfinden, wenn nicht begriffen wird, warum junge Männer und Frauen zur Waffe gegen den eigenen Staat greifen? Bruno Ganz, der den BKA-Chef Horst Herold in „Der Baader Meinhof Komplex“ (Uli Edel, D 2008) spielt, trifft es auf den Punkt: Wir müssen die Taten der Terroristen nicht rechtfertigen, aber ihre Motive so gut wie möglich nachvollziehen: Papa, was hast du im Krieg gemacht? Dass Fassbinder schlussendlich auch von den Motiven der RAF Abstand nahm, zeigte seine spätere Terroristen-Farce „Die dritte Generation“ (D 1979), eine korrumpierbare, von imperialistischen Konsumgütern betörte Gruppe aggressiver Randalierer, denen für politische Agitation und Aktion die nötige Intelligenz fehlt. Chic-Terroristen, quasi eine Modeerscheinung mitsamt Clownsverkleidung und Bombenweste. Fassbinder war sich bewusst, dass der Wahnsinn, den die Aktionen der RAF nach sich ziehen, sie letztlich von den Massen isolieren und damit wirkungslos lassen würde.4 Fassbinder schlägt sich auf keine Seite, er zeigt vielmehr, wie es ist, zwischen diesen beiden leben zu müssen und was es heißt, diese Grausamkeiten auszuhalten.

Autor: Lucas Curstädt

[1] Vgl. Michel Focault (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
[2] Vgl. Jürgen Felix (2008): Rainer Werner Fassbinder. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure, S. 226
[3] Vgl. Thomas Elsaesser (2000): Rainer Werner Fassbinder, S. 32
[4] Vgl. Thomas Elsaesser (2000): Rainer Werner Fassbinder, S. 52

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