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This is England (2006) Review

Regisseur Shane Meadows ist mit „This is England“ ein aufwühlender Independent-Film gelungen, der Grenzen auslotet und gleichzeitig aufzeigt. Erzählerisch und stilistisch ein Meisterwerk, das durch schlichte Unmittelbarkeit besticht.

Der 12-Jährige Shaun wächst im England der Thatcher-Ära auf, eine Zeit voller Machtkämpfe und Konflikte – und Shaun steht auf der Verliererseite. Sein Vater ist im Falkland-Krieg gefallen, seine Mutter kann ihm materiell wenig bieten und seine Heimat, eine triste Arbeiterstadt, lässt wenig Hoffnung auf rosige Zukunftsperspektiven. Selbst für die Kinder dieser Gegend ist er schäbig gekleidet, wird gemobbt, prügelt sich. Er ist ein klassischer Außenseiter und hat das Vertrauen in andere längst verlernt. Doch dann nimmt sich eine Gruppe Skinheads seiner an. Mit ihnen erfährt er Respekt, Spaß und eine ihm unbekannte Leichtigkeit: Shaun gehört dazu. Doch die Einigkeit zerbricht, als Cosmo, frisch entlassen nach einer mehrjährigen Haftstrafe, zum Anführer der Gruppe wird. Mit seinen rechten Hassreden polarisiert er, fasziniert er, spaltet alte Loyalitäten und schmiedet neue, die nur ihm gelten. Einige wenden sich enttäuscht ab. Shaun bleibt. Bis zum bitteren Ende.

Die Atmosphäre von „This is England“ ist rau, unmittelbar, geht unter die Haut. Die Bilder wirken körnig, die Kamera folgt den Charakteren semidokumentarisch und ohne Prätentionen der Eleganz. Sie zeigt alle Seiten des Spektrums, weder dämonisierend noch romantisierend. Die ausbrechende Gewalt macht sie so auf allen Ebenen erfahrbar: Als Akt des Terrors gegen den „Ausländer“, der schikaniert und bedroht wird und jedes Gefühl der Sicherheit verliert, sowie als Machtrausch, Freiheit und Ausbruch der Freude, der die Skinheadgruppe beflügelt. Die visuelle Härte wird kontrastiert durch einen geradezu zarten, melancholischen Soundtrack von Ludovico Einaudi. Durch ihn werden Emotionen intensiviert, ohne sie zu vereinfachen, man wird hineingesogen in den Höhenrausch der Gemeinschaft, fühlt mit, was man von sich fernhalten möchte. Gerade durch dieses Aufeinanderprallen von zur sachlichen Reflektion fordernden Bildern und emotional mitreißender Musik wird der Zuschauer mit den eigenen Werten auf unangenehme Weise konfrontiert und muss das eigene Weltbild und die entstehenden Sympathien immer wieder hinterfragen.

Die Handlung selbst wird ohne stilistische Verschachtelungen, aber mit großer Intensität erzählt. In chronologischer Reihenfolge wird Shauns Werdegang zum kriminellen Rechtsradikalen dargestellt. Einzig die Nachrichtenschnipsel, die zu Anfang und Ende zu einer assoziativen Collage zusammengeschnitten werden, verweisen auf übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Geschichte des jungen Shaun wird zum Spiegel einer ganzen Nation, die versinkt in Hass und sich mit der eigenen Vielfalt nicht arrangieren will.

Gecastet wurde nicht nach den Prinzipien der Schönheit und besonderen äußeren Merkmalen. Ganz im Gegenteil, die Charaktere sollen gewöhnlich aussehen und vermitteln so ein Gefühl von alltäglicher Normalität. Es sind keine brillanten Auserwählten, die hier heroische Taten vollbringen, sondern kleine Menschen, unbedeutend für den, der nicht richtig hinschaut. Sie möchten ihrem Leben Sinn verleihen und sind doch nur zu Gräueltaten fähig, die sich mit schockierender Natürlichkeit in ihre Lebenswelt einfügen. Die menschlichen Impulsen folgen, welche denen auf der anderen Seite nicht unbekannt sind. Schauspielerisch sind die Leistungen dieser Normalmenschen bis zur kleinsten Nebenrolle überzeugend und werden der glaubhaften und vielschichtigen Figurenzeichnung in jeder Sekunde gerecht. Stephen Graham als Cosmo beeindruckt schon durch pure körperliche Präsenz. Der bullige Hüne verkörpert die Rolle des Alphatiers und charismatischen Demagogen mit einer verzweifelten Getriebenheit. Er lässt ihn schwach wirken in seiner Stärke und kann glaubhaft widersprüchlichste Charakterzüge in sich vereinen, durch die Cosmo seine Schwächen als Schwächen anderer verkleiden kann. Unübertroffen bleibt jedoch Thomas Turgoose, dem es als Shaun gelingt, Sympathien für sich zu erwecken, wenn man Ekel empfinden sollte und der unter einer verhärteten Fassade immer wieder eine fast schon rührende verletzliche Kindlichkeit durchschimmern lässt. Obwohl er hier sein Schauspieldebüt auf der großen Leinwand gibt, gelingt ihm seine Darstellung mit einer Leichtigkeit und Professionalität, die alle Vorurteile gegen Kinderdarsteller Lügen straft.

© Universum Film

© Universum Film

„This is England“ ist kein Film zum Entspannen und schwärmerischen Dahinträumen. Er eckt an, strengt an, reißt mit und lässt einen aufgewühlt und gleichzeitig bereichert zurück. Für einen jeden zu empfehlen, nur eben nicht nach einem harten Arbeitstag.

Autorin: Marisa Lehn

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