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Shoah und die Folgefilme (1985/2016) DVD-Kritik

© absolut MEDIEN

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Mit dem Nationalsozialismus und dem Völkermord an der jüdischen europäischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs haben sich schon zahlreiche Filme befasst, sei es nun Alain Resnais‘ „Nacht und Nebel“, Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ oder der letztjährige Oscargewinner für den besten fremdsprachigen Film, „Son of Saul“. Doch niemand hat sich mit dem Holocaust wohl so intensiv – und extensiv – auseinander gesetzt wie Claude Lanzmann. Als Enkel jüdischer Immigranten und Sohn eines Résistance-Aktivisten nahm er als junger Mann selbst an Partisanenkämpfen teil und setzte sich seit Anfang der 1970er-Jahre filmisch mit dem Judentum und der Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten auseinander. 1974 begann er schließlich eine insgesamt zwölfjährige Recherche und Dokumentarreise für „Shoah“.

Der Film
Mit insgesamt 350 Stunden Interview-Material und den daraus resultierenden neuneinhalb Stunden Dokumentation ist „Shoah“ ein massives Bollwerk, das alles andere – selbst in Lanzmanns eigenem Werk – in den Schatten stellt. So ist es auch kaum verwunderlich, dass die hier besprochene Kollektion nicht als „Claude-Lanzmann-Box“ o.ä., sondern mit dem Titel „Shoah und die Folgefilme“ herausgegeben wird. Denn „Shoah“ stellt allein schon durch seine schier unglaubliche Länge einen Ausnahmefilm dar und ist seit seinem Erscheinungsjahr 1985 zu einem Standardwerk der Holocaust-Aufarbeitung geworden. Dabei schafft es Lanzmann, einen ganz und gar andersartigen Film über das wohl schlimmste Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu zeigen. „Shoah“ will nicht visuell schocken und stellt niemanden an den Pranger; so ist im Film kein einziger Leichnam zu sehen; kein Archivbild. Mit einer stetigen Ruhe und fast schon poetischer Langsamkeit begegnet er den verlassenen Stätten der Vernichtung und lässt ihnen durch die Erinnerungen der Augenzeugen Leben einhauchen (wenn man in diesem Fall überhaupt von „Leben“ sprechen kann). Die Gesprächspartner sind dabei sehr divers. Von Bauern, die in der Nähe der Lager ihre Felder bestellten über Historiker bis hin zu Gefangenen und SS-Männern, die sich in den Lagern selbst aufhielten. Viele Charaktere kehren dabei wieder und führen den Film von der Ankunft in den Lagern über Treblinka nach Auschwitz und schließlich zu den Aufständen im Warschauer Ghetto.

Lanzmann bemüht sich dabei um Transparenz, um Reflexion und Nähe. Oft ist er selbst mit seiner Dolmetscherin im Bild zu sehen, lässt die Menschen sprechen, dann erst übersetzen. Sogar die Hintergründe und das versteckte Equipment für die heimlichen Aufnahmen der damaligen SS-Leute werden gezeigt. Der Zuschauer ist immer ganz nah an den Augenzeugen und kann förmlich sehen, wie die schrecklichen Erinnerungen in sie zurückkehren, wenn Lanzmann die radikalen, die direkten Fragen stellt. Dabei bleibt er fordernd, aber nicht herzlos, wenn sein Gegenüber die reine Erzählung verlässt und sich seinen Emotionen hingibt. Die Kamera bleibt davon unberührt und lässt den Zuschauer mit den Protagonisten leiden.

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Schon seine Länge und seine scheinbar unerschütterliche Ruhe machen „Shoah“ zu einem nur schwer erträglichen Film. Immer wieder kehren Bilder von Zügen, von Bahnhöfen und Gleisen zurück, für die langsame und manchmal tagelange Fahrt in einen grausamen und entmenschlichten Tod. Die Schilderungen der Augenzeugen zu den leeren, kalten Baracken lassen „Shoah“ zu einem Film werden, der vielleicht mehr schockiert als es ein noch so drastischer Spielfilm jemals könnte. In einer Sitzung eigentlich unmöglich zu schaffen, stellt er nur ein Fenster dar in einen Kosmos, den selbst Lanzmann als unerschöpflich bezeichnete. In seinen Worten ist „Shoah“ ein unendlicher Film und ähnlich fühlt er sich an. Doch ist man als Zuschauer stetig gebannt von den Schicksalen der Menschen, bis man nach und nach jeden noch so nüchtern erzählenden Interview-Partner die Fassung verlieren sieht. So stellt „Shoah“ auch für den Zuschauer eine Tortur von selten erreichtem Ausmaß da, doch ist er als Dokumentarfilm unersetzlich, ein Meilenstein der Aufarbeitung und dadurch allemal sehenswert.

Zur Edition

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Die Veröffentlichung von absolut Medien zeigt den Hauptfilm als neu gemasterte Auflage der restaurierten Fassung. In einem handlichen Pappschuber kommt eine ansehnlich designte, aufklappbare Box mit sechs DVDs und einem kleinen Booklet. Auf den ersten vier Discs befindet sich „Shoah“, auf den letzten zwei die Fortschreibungen, die aus Platz- und Zeitgründen hier nicht tiefergehend besprochen werden. Doch erwähnenswert sind sie durchaus, denn auch hier hat Lanzmann die niemals endende Geschichte der Massenvernichtung wiederaufgegriffen und sie über 16 Jahre hinweg in vier Filmen umgesetzt. Es handelt sich dabei um:
„Ein Lebender geht vorbei“ (1997; 65 Minuten)
„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ (2001; 95 Minuten)
„Der Karski-Bericht“ (2010; 49 Minuten)
„Der Letzte der Ungerechten“ (2013, 210 Minuten).

Abgesehen von Lanzmanns letztem Film, „Der Letzte der Ungerechten“, der aus dem elfstündigen Interview mit dem ehemaligen Rabbiner und späteren Leiter der Wiener „Auswanderabteilung“ Benjamin Murmelstein besteht, haben die Folgefilme eine recht handliche Länge und enthalten neben einer kleinen Einführung im Booklet auch eine ausführlichere PDF-Datei auf der jeweiligen Disc. Mit den insgesamt sechs DVDs und einer Gesamtlaufzeit von 16 ½ Stunden zeigt absolut Medien hier das erste Mal eine gesammelte Veröffentlichung von Lanzmanns einschlägigsten Werken. Definitiv sehenswert und für Interessierte sowohl am Holocaust wie auch dem Dokumentarfilm als solchem eine Edition, die man sich eigentlich nicht entgehen lassen kann.

Autor: Janosch Steinel

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