Experimentelle „Tatorte“, die nicht einfach nur experimentell, sondern auch noch intelligent und unterhaltsam sind, gibt es wirklich nicht oft. Meistens sind sie nicht nur völlig absurd, sondern auch noch ziemlich langweilig (man denke zum Beispiel an den fürchterlichen Stuttgarter Okkultismus-Tatort „Hüter der Schwelle“ aus dem letzten Jahr). Eines der seltenen geglückten „Tatort“-Experimente war 2015 „Wer bin ich?“, in dem Ulrich Tukur sich selbst spielt und von seinem fiktiven Tatort-Charakter Felix Murot mit der Forderung nach einer eigenen, vom Schauspieler unabhängigen Existenz konfrontiert wird. Bastian Günther, der Autor und Regisseur von „Wer bin ich?“, ließ nach seinem originellen Meta-Tatort erstmal nichts mehr von sich hören, hat nun aber auf der Berlinale – wo er 2007 schon mit seinem Film „Autopiloten“ vertreten war – sein neues Werk präsentiert. Im Gegensatz zu „Autopiloten“ spielt „One of These Days“ allerdings nicht in Deutschland, sondern im US-amerikanischen Texas, und in den Hauptrollen sind statt der Polizeiruf- bzw. Tatort-Kommissare Charly Hübner und Wolfram Koch die international bekannten Schauspieler*innen Joe Cole („Peaky Blinders“, „A Prayer Before Dawn“) und Carrie Preston („True Blood“, „The Good Wife“) zu sehen. Am Beispiel eines gnadenlosen Wettbewerbs seziert Günther über 120 Minuten die tückischen Mechanismen und destruktiven Auswirkungen des neoliberal geprägten Kapitalismus. Dies tut er so präzise und clever, dass sein Drama trotz des ruhigen Erzähltempos einen bemerkenswerten Sog entfaltet und noch dazu lange nachwirkt.
In einer texanischen Kleinstadt mit schlechter Infrastruktur und großer Armut findet ein sogenannter „Hands-On-Contest“ statt. Die Regeln sind einfach: Zwanzig per Losverfahren ausgewählte Teilnehmer*innen stehen um einen brandneuen Pickup-Truck herum und berühren ihn mit mindestens einer Hand. Wer es schafft, seine Hand länger auf dem Fahrzeug zu halten als seine Konkurrent*innen, darf den Wagen behalten. Pausen, in denen die Teilnehmenden auf die Toilette gehen, sich kurz hinsetzen oder körperlich betätigen können, gibt es auch: einmal pro Stunde fünf Minuten, alle sechs Stunden (!) fünfzehn Minuten. Schlafen ist allerdings auch während der Pausen verboten. Einer der Kandidat*innen ist der junge Familienvater Kyle Parson (Joe Cole). Das, was er selbst im Drive-in-Schalter eines Fast-Food-Restaurants und seine Frau Maria (Callie Hernandez, „Alien: Covenant“, „Under the Silver Lake“) als Fischerin verdienen, reicht kaum aus, um die beiden und den kleinen Sohn zu ernähren. Als dann auch noch das Familienauto den Geist aufgibt, erscheint der Gewinn des Pickup-Trucks der Familie als einzige Möglichkeit, der prekären Lebenssituation wenigstens ein Stück weit zu entkommen. Die anderen Kandidat*innen des Contests haben jedoch ähnlich starke Motive und denken nicht im Traum daran, Kyle den Sieg zu überlassen. Es beginnt ein zunächst stunden- und später tagelanger Kampf um den Truck, der Kyle und seine Konkurrent*innen an die Grenzen des Aushaltbaren und darüber hinaus bringt.
Dass die Motivation vieler Teilnehmender vor allem die wirtschaftliche Verbesserung ihrer Situation ist, liegt auf der Hand. Doch auch wenn einige dabei sind, die offenbar nur für sich allein kämpfen – wie beispielsweise Kevin (Jesse C. Boyd, „The Highwaymen“), der nach eigener Aussage „professionell“ an Hands-On-Contests teilnimmt –, im Falle der meisten Kandidat*innen hängt auch das Schicksal ganzer Familien am Gewinn oder Nicht-Gewinn des Pickup-Trucks. Wie Günther dies herausstellt – mit kurzen, prägnanten Einstellungen, die zum Beispiel Brian (Clyde Risley Jones, „13 Sins“) dabei zeigen, wie er seinen aufgeregt winkenden Kindern im Publikum zulächelt – deutet schon an, was auch den ganzen Film über eine seiner großen Stärken ist: Anstatt Zusammenhänge und Beziehungen lang und breit in Dialogen zu erklären, zeigt Günther sie einfach, indem er die visuellen Möglichkeiten von Film nutzt. Auch die physische und psychische Verfassung der Kandidat*innen, die sich in der brennenden Südstaatenhitze und mit zunehmendem Schlaf- und Bewegungsmangel natürlich zusehends verschlechtert, wird eigentlich nie verbalisiert. Umso bemerkenswerter ist es, dass man dennoch das Gefühl hat, die Erschöpfung der Kandidat*innen fast körperlich wahrnehmen zu können. Die gezielt eingesetzten Großaufnahmen der müden, schweißnassen Gesichter können eben mehr Leiden ausdrücken als Worte.
„One of These Days“ versteht es hervorragend, am Mikrokosmos des Hands-On-Contests die Ursachen und Dynamiken einer vom Kapitalismus hervorgebrachten Ellenbogengesellschaft abzubilden. Die Kandidat*innen versuchen nicht, die anderen Teilnehmenden auszustechen, weil Menschen „nun mal so sind“, sondern weil der Wettbewerb eben genau darauf angelegt ist. Jede*r kann es schaffen, aber eben nicht alle, und ohne Verlierer*innen gibt es auch keine Gewinner*innen. Kyle setzen im erbitterten Konkurrenzkampf vor allem zwei Kandidaten zu: auf der einen Seite Hands-On-Profi Kevin, der Kyle mit spitzen Kommentaren irritiert, und auf der anderen Seite der junge Veteran Derek (Evan Henderson, „Atlanta Medical“), der Kyle sogar körperliche Gewalt androht. Einige Teilnehmer*innen leiden jedoch auch einfach still vor sich hin oder schotten sich mit Kopfhörern oder intensiver Bibellektüre von den anderen Kandidat*innen ab. Zusammenhalt und Solidarität sind schlichtweg keine Verhaltensweisen, die in der Welt der Hands-On-Wettbewerbe (oder des Kapitalismus) belohnt werden.
Wenn dann doch mal so etwas wie Gemeinschaftssinn in der Gruppe aufkommt, dann kann er sich nie richtig entfalten. In einer Szene schlagen ein paar Teilnehmende vor, einfach gemeinsam um den Truck herumzugehen, so dass alle eine Hand auf dem Wagen lassen und sich trotzdem wenigstens ein bisschen bewegen. Einige können sich aber nicht dazu überwinden und bleiben einfach stehen. Die Angst, durch kollektiven Aktivismus die eigene Situation zu verschlechtern, ist bei den Kandidat*innen so präsent, dass sie eine mögliche Verbesserung ihrer Situation durch gemeinsames Handeln schon von sich aus ablehnen. Repressive Maßnahmen von außen, also zum Beispiel ein Eingreifen der Schiedsrichter des Hands-On-Contests, werden also gar nicht erst erforderlich. Das Regelsystem des Wettbewerbs macht sich wie das kapitalistische System die Angst der Schwächsten zunutze und erhält sich damit sozusagen selbst.
Obwohl die erbarmungslosen Regeln des Wettbewerbs teilweise massive körperliche und psychische Zusammenbrüche unter den Kandidat*innen auslösen, lehnt sich keine*r von ihnen gegen die Regeln auf. Einige versuchen sogar, die Anforderungen des Wettbewerbs nicht nur zu erfüllen, sondern zu „über-erfüllen“. Kyle zum Beispiel besteht zwischenzeitlich darauf, immer beide Hände auf dem Truck zu haben, obwohl es eigentlich nur eine sein muss, und Walter (Carl Palmer, „Dallas Buyers Club“) verzichtet auf alle Toilettenpausen, weil er sich ja auch einfach über einen selbst gelegten Katheter erleichtern kann. Hinter diesem Verhalten steht der in der neoliberalen Leistungsgesellschaft omnipräsente Glaubenssatz, dass Misserfolg immer nur auf fehlende Anstrengung des Einzelnen, aber nie auf das System selbst zurückzuführen sein kann. Die Regeln mehr als nur zu befolgen, erscheint nach dieser Logik wie eine kluge Erfolgsstrategie. Für Walter geht die Strategie aber jedenfalls nicht auf: Nach einigen Stunden bricht er bewusstlos zusammen und scheidet damit aus dem Contest aus.
Die direkten Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe finden ausschließlich zwischen weißen Männern statt, während sich alle weiblichen Teilnehmenden und die Men of Color weitgehend aus den Konflikten heraushalten. Dies erscheint angesichts des Umstands, dass Frauen und People of Color oft das ganze Leben lang vermittelt wird, sie sollten nicht zu laut sein und nicht zu sehr auffallen, durchaus nachvollziehbar. Dass „One of These Days“ die Charaktere der weißen Männer aber auch darüber hinaus um einiges facettenreicher ausgestaltet als die der Frauen und nichtweißen Männer, ist hierdurch allerdings nicht gerechtfertigt. Zu untersuchen, wie bei People of Color und insbesondere Women of Color die Aspekte race, class und gender im Sinne von Intersektionalität zusammenwirken und die Benachteiligung innerhalb des kapitalistischen Systems noch verstärken, wäre wichtig und mit Sicherheit auch interessant gewesen.
Eine der spannendsten, wenn nicht sogar DIE spannendste Figur in „One of These Days“ ist kein*e Teilnehmer*in, sondern die Autohausmitarbeiterin Joan Dempsey (Carrie Preston), die für die Moderation des Wettbewerbs verantwortlich ist. Das Leiden der Kandidat*innen wird nämlich nicht hinter verschlossenen Türen versteckt, sondern hemmungslos kommerziell und medial ausgeschlachtet. Das Publikum kann dem erbitterten Konkurrenzkampf wahlweise vor Ort, per TV-Übertragung oder im Online-Livestream beiwohnen und (falls der Wettbewerb selbst zu langweilig werden sollte) am Rodeo-Reiten teilnehmen oder eine andere Attraktion auf dem Contestgelände besuchen. Bastian Günther hätte es sich und den Zuschauer*innen an dieser Stelle leicht machen und Contest-Moderatorin Joan als fieses Biest inszenieren können, das die Kandidat*innen hinterlistig ausnutzt und aus reiner Profitgier der öffentlichen Demütigung aussetzt. Was Joans Charakter aber so genial macht, ist seine Ambivalenz. Tatsächlich wirkt die Autoverkäuferin zunächst alles andere als unsympathisch. Egal, wie verzweifelt die Teilnehmer*innen während des Contests auch sind: Joan, die zierliche Frau mit der sanften Stimme und den verspielten Blumenkleidern, steht ihnen jedes Mal mit aufbauenden Worten zur Seite und weckt sie sogar diskret auf, wenn sie kurz davor sind, einzuschlafen. Mehrere Einblicke in das Privatleben der Autoverkäuferin zeigen zudem, dass auch sie selbst mit verschiedenen Problemen zu kämpfen hat: Ihr Liebhaber lässt sie für eine andere Frau sitzen, ihre störrische Mutter haut ständig aus dem Altersheim ab und noch dazu vermisst Joan ihre Tochter, die vor kurzem zum Studieren in einen anderen Bundesstaat gezogen ist. Bei all der Freundlichkeit und Verletzlichkeit, die Joan an den Tag legt, mag man ihr kaum böse Absichten unterstellen. Außerdem hat sie sich den Wettbewerb und seine grausamen Regeln ja auch gar nicht selbst ausgedacht. Mehrere Male ist im Blick der Autohausmitarbeiterin jedoch deutlich zu lesen, dass sie die Kandidat*innen eben nicht nur aus reiner Herzensgüte zum Durchhalten animiert, sondern auch, um den Contest in die Länge zu ziehen und damit die Einnahmen für das Autohaus zu erhöhen. Dass das natürlich auch bedeutet, das Leiden der Teilnehmenden zu verlängern, nimmt sie dabei billigend in Kauf, denn nur so kann sie ihren Chefs zeigen, dass ihre eigene Anwesenheit beim Wettbewerb gerechtfertigt ist. Die Autoverkäuferin verdient ihr Geld damit, zur Ausbeutung und Erniedrigung von Menschen beizutragen, die sowieso schon ganz unten sind, und dass sie dies auf liebevolle Weise tut, macht ihr Verhalten nicht besser, sondern erst recht perfide. Mit ihrer mütterlichen und zugleich manipulativen Art wirkt sie wie Inka Bause und Vera Int-Veen, die ihren Kandidat*innen ja auch einen Ausweg aus der Benachteiligung versprechen, in Wahrheit aber genau diese Benachteiligung brauchen und mittels öffentlicher Demütigung noch verfestigen müssen, um „Bauer sucht Frau“ und „Schwiegertochter gesucht“ am Laufen zu halten. Zum modernen Kapitalismus gehört eben auch Reality-TV.
Dass Joans Vorgesetzte, also die eigentlichen Organisator*innen des Contests, mehr oder weniger unsichtbar bleiben, ergibt ebenfalls Sinn. Diejenigen, die von der Ausnutzung der Unterschicht finanziell am meisten profitieren, sind nun mal oft in Positionen, in denen sie gar nicht aktiv ins Geschehen „da unten“ eingreifen müssen. Während Joan auch selbst zumindest ein bisschen Erniedrigung einstecken muss – so sieht sie sich zwischendurch zum Beispiel genötigt, Walters vollen Katheterbeutel auszuleeren –, können ihre Chefs einfach die Hände in den Schoß legen und sich darauf freuen, die Einnahmen vom Rodeo-Reiten zu zählen.
In seinen 120 Minuten hält „One of These Days“ immer wieder unerwartete Wendungen bereit. Kandidat*innen, die erst als potentielle Gewinner*innen erscheinen, sind nach kurzer Zeit plötzlich verschwunden und clevere Durchhaltestrategien erweisen sich als gezielt eingesetzte Mittel der Täuschung. Am meisten überrascht aber der harte erzählerische und stilistische Bruch, den der Film nach etwa 90 Minuten vollzieht. Nachdem der Wettbewerb ein plötzliches und tragisches Ende gefunden hat, widmet sich Günther in einem Rückblick Kyles Leben vor dem Contest. Hier verschwimmen dann auf einmal Einbildung und Realität (Stichwort: sprechendes Auto), so dass man sich stellenweise sogar ein bisschen an Günthers „Wer bin ich?“-Tatort erinnert fühlt. Doch auch wenn der Film in dieser letzten halben Stunde tiefe Einblicke in Kyles Lebensverhältnisse und seine Psyche gewährt – er macht nicht den Fehler, diese zu stark zu individualisieren und damit ihre strukturellen Ursachen zu verschleiern. Vielmehr macht er deutlich, dass sich strukturelle Missstände immer auch auf menschliche Schicksale und eben nicht nur auf Statistiken auswirken.
Ein offizieller Kinostart von „One of These Days“ wurde bislang nicht bekannt gegeben und könnte sich wegen der aktuellen Corona-Pandemie ohnehin stark verzögern. Auf dem Schirm haben sollte man das Drama von Bastian Günther aber definitiv. Seine Inszenierung ist durchweg stilsicher und seine Kapitalismuskritik überaus intelligent und pointiert, auch wenn es schade ist, dass die Frage der Intersektionalität weitgehend ungestellt bleibt. Es wäre schön, wenn Günthers nächster Film nicht wieder fünf oder mehr Jahre auf sich warten lässt.
Autorin: Johanna Böther