Einen Kommentar hinterlassen

Love Exposure (2008) BluRay-Kritik

© Rapid Eye Movies

© Rapid Eye Movies

Für angehende japanophile Cineasten wirkt „Love Exposure“ wie der Everest. Keine „Top of XYZ“-Liste, die sich mit japanischem (oder gern auch allgemein asiatischem) Kino befasst und dabei vor allem das 21. Jahrhundert in den Fokus schiebt, kann es sich leisten, dieses Monstrum zu vergessen – im Gegenteil, eher landet der Film auf einem der oberen Plätze. Zum einen verschlägt die schiere Masse an Filmmaterial den Atem – 237 Minuten, beinahe vier ganze Stunden. Zum anderen lässt der prägnante Name des Erschaffers dieser Wahnphantasie gleichzeitig erschaudern und vor Freude aufglühen: Sion Sono, ein Mann, der binnen kürzester Zeit eine ähnlich treue (und wachsende) Fangemeinde um sich scharen konnte wie ein Takashi Miike – und seinen Kollegen in Drastik und gleichzeitiger Innovation vermutlich schon seit Jahren überflügelt hat. Der künstlerische Output scheint langsam absurd: 27 Projekte unterschiedlicher Gattungen listet die IMDb in den letzten zehn Jahren, eine Handvoll davon konnte von findigen und risikofreudigen Labels auch nach Deutschland importiert werden. „Love Exposure“ ist in dieser Auswahl das bekannteste Werk, und nun spendiert Rapid Eye Movies diesem wunderbaren Film ein wohlverdientes Blu-Ray-Update.

Weder Genre noch Geschichte lassen sich kurz und bündig zusammenfassen – die Laufzeit und Vielfalt überfordern den Zuschauer beim ersten Mal, der Film beschießt uns mit schier unendlichen Versatzstücken und Einflüssen. Im Endeffekt handelt es sich jedoch um eine Liebesgeschichte. Was macht man als frommer Christ, wenn einem die Sünden zum Beichten ausgehen? Man erschafft sich neue – Yu (Takahiro Nishijima, eher bekannt als Mitglied der J-Pop-Band „AAA“) beginnt deswegen mit einer äußert elaborierten, beinahe guerillamäßigen Form von Upskirt-Fotografie, die er mit seinen Freunden kultiviert. Bei einem der Streifzüge trifft er auf Yoko (Hikari Mitsushima) und verliebt sich sofort. Von dort an ist der Film eine Achterbahnfahrt, von deren Wahnsinn und Erfindungsreichtum hier nichts weiter vorweggenommen werden soll.

Wie sich „Achterbahnfahrt“ mit den 237 Minuten Länge zusammenführen lässt, mag auf den ersten Blick schwierig aussehen, trifft jedoch eine Stärke des Filmes auf den Punkt. Denn wer sich bisher von der Laufzeit abschrecken ließ, der wird bei der ersten Sichtung überrascht werden: Kaum ein Film dieser Länge vermag es ähnlich kurzweilig zu sein wie „Love Exposure“. Der Film fliegt am Zuschauer vorbei – wenn der Titel eingeblendet wird, ist die erste Stunde schon verstrichen. Gleichzeitig nimmt er unsere Gewohnheit, unser wohliges Einfinden in Genrekonvention und bekannte Topoi und schüttelt all das vollkommen durch. Die Genreeinordnung ist nicht möglich, weil der Film beinahe alle Genres durchspielt. Ähnlich sprunghaft arbeitet Sono auch mit unseren Emotionen – manchmal liebevoll und herzlich, dann wieder schockierend brutal, danach befreiend witzig. In „Love Exposure“ können wir uns nie sicher fühlen, und das macht die Erfahrung so aufregend.

© Rapid Eye Movies

© Rapid Eye Movies

In den HD-Neuauflagen seines Bestandes zeigt sich Rapid Eye Movies vielseitig: Gestandene Klassiker, exploitative Perlen und jüngste Produktionen aus den asiatischen Filmnationen wechseln sich ab. „Love Exposure“ gehört zu wohl zu allen drei Kategorien, und ist in keiner davon nur mit Abstrichen zu empfehlen. Er ist ein ultimativer Hybrid, der sich aus unendlichen Motiven und Topoi zusammensetzt, und daraus etwas Neuartiges, Wildes gemacht hat. Wie ein unbändiges Tier, das aus dem Käfig gelassen wurde, oder ihn womöglich selbst zerlegt hat.

Autor: Roman Widera

Leave a Reply