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Lost River (2014) Review

© BOLD FILMS PRODUCTIONS, LLC. / TIBERIUS FILM GMBH

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Die dominanteste Information in Verbindung mit Ryan Goslings Regiedebüt war die Tatsache, dass die Reaktion in Cannes überaus zwiegespalten aussah. Zwischen Applaus und Jubel schlichen sich nicht überhörbare Buh-Rufe. Ebenso gemischt sah das kritische Echo nach Veröffentlichung in den USA aus. Sollte man deswegen vom Kinobesuch absehen? Mittlerweile existieren zahlreiche Listen mit anerkannten Klassikern, die in Cannes eine sehr dürftige Rückmeldung in den Festivalsälen erhielten („Pulp Fiction“, „Taxi Driver“, „L’Avventura“, um nur einige wichtige zu nennen). Von der Meinung der Croisette sollte man sich also nicht zu stark beeinflussen lassen. „Lost River“ kann sich zu keiner Sekunde neben den genannten Werken positionieren, besitzt aber genug interessante Ansätze, um eine Sichtung zu rechtfertigen.

Unter den letzten Bewohnern der heruntergekommenen Stadt „Lost River“ finden sich Bones (Ian De Caestecker), sein Bruder und ihre alleinerziehende Mutter Billy (Christina Hendricks, bekannt aus „Mad Men“). Die Nachbarschaft um das Haus der Familie ist beinahe schon leergefegt, nur „Ratte“ (sehr markant: Saoirse Ronan) lebt noch mit ihrer katatonischen Großmutter im Nachbarhaus. Billy braucht dringend Geld, um die Familie durchzubringen und entscheidet sich für ein zwielichtiges Jobangebot in einem Nachtclub, das ihr von Dave, dem neuen Bankmanager (Ben Mendelsohn) gemacht wird. Die Annäherung zwischen Ratte und Bones, die eigentlich nur ihren Platz in dieser zusammenfallenden Welt suchen, wird durch „Bully“ gestört, der die verlassene Stadt zu seiner Regierungszone erklärt und Querstehende terrorisiert und quält. Eigentlich gibt es für niemanden einen Grund, noch in Lost River zu bleiben, doch eine fast mystische Kraft hält sie scheinbar alle dort fest.

Über seine 95 Minuten versucht „Lost River“ viel zu erzählen. Die Handlungsstränge um Bones, Ratte und Bully verlaufen parallel zu den finanziellen Aufstiegsversuchen Billys. Ihre Geschichte ist die recht klassische Leidensgeschichte einer Mutter, die bereit ist, alles für ihre Familie zu opfern, um deren Existenz zu retten. Das Gespann um die heranwachsenden Figuren erinnert stark an Jugendfilme der 80er-Jahre, so wirken Teenager- und Erwachsenenwelt anfangs völlig separiert voneinander. Beide Plots und Figurenentwicklungen sind nicht neuartig oder gar überraschend, einzig die Bully-Figur (Matt Smith, zuvor Dr. Who) schafft es, durch ihre kompromisslose Grausamkeit herauszustechen, weil ihre Übermacht durch die jugendliche Perspektive übersteigert wird. Solange man das Gefühl hat, dass dort niemand eingreifen kann, funktioniert dieser Terror. Da sich die beiden zuvor voneinander separierten Welten aber zwangsweise im Verlauf der Handlung mehrmals berühren, wirkt die extreme Gewalt, die Bully den anderen Stadtbewohnern zufügt, ab einem bestimmten Punkt unglaubwürdig. Die Stadt ist in schlechtem Zustand, dass sie allerdings von der Polizei sich selbst überlassen wurde, gleitet dann doch in Bereiche der Dystopie ab.

© BOLD FILMS PRODUCTIONS, LLC. / TIBERIUS FILM GMBH

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Zu den Elementen, die „Lost River“ besonders machen, gehört vor allem die Art und Weise, wie die Stadt eingefangen wird. Neben dem im Independentbereich durchaus namhaften Cast, der sich auch keine Aussetzer leistet, spielt in „Lost River“ die Stadt, unübersehbar Detroit, ebenfalls eine Hauptrolle. Mit Moos überwucherte Straßen, marode Häuser, ein von der Natur zurückeroberter Zoo, brüchige, mit Graffiti übersäte Mauern und Steinbrücken, geflutete Straßenzüge und aufgerissener Asphalt. Kameramann Benoît Debie („Spring Breakers“, „Enter The Void“) fängt Detroit, einstig florierendes Symbol der amerikanischen Wirtschaft, als zerbröckelnden und ruinösen Traum ein, seine Bilder vermögen es, zwischen Unbehagen und Faszination vor dem Verfall zu oszillieren. Wenn Bones mit einem kleinen Boot über Wasserflächen fährt, aus denen Straßenlaternen herausragen, wird aus dem zerstörten Sinnbild der amerikanischen Mittelschicht eine surreale Fantasie, die in den Albtraum abgleiten könnte, aber im Moment noch in Schönheit verharrt.

Dieser Surrealismus ist die größte Stärke von Lost River, vermutlich benannte Gosling den Schauplatz deshalb von Detroit kurzerhand in einen fiktiven Ort um. Der Film bietet ein verrücktes Gemisch aus völlig unterschiedlichen, anachronistisch wirkenden Momenten und Setpieces. Ein aus der Zeit gefallenes Theater mit Grand-Guignol-Aufführungen, ein futuristischer aseptischer Raum mit einer eisernen Jungfrau im Zentrum und ein unter Wasser gesetzter Dinosaurierpark, alles ansässig in dieser träumerischen und gleichzeitig angsteinflößenden Kulisse um Detroit. Stilistisch wurde Gosling überdeutlich durch seine Freundschaft zu Regiekollege Nicolas Winding Refn beeinflusst, was sich auch im Soundtrack niederschlägt: Johnny Jewel komponierte schon Songs für „Bronson“ sowie „Drive“ und unterlegt auch Goslings Werk mit Synthpop aus den 80ern, komponiert im 21. Jahrhundert – ein weiterer Anachronismus im Kosmos um „Lost River“. Eine weitere deutliche Inspirationsquelle dürfte David Lynch sein (mit dem vermutlich jeder surreal anmutende Film der nächsten 100 Jahre in Kontext gesetzt werden wird), sowie die Giallo-Ästhetik eines Mario Bava, hervorstechend in den Theaterszenen. 

Es ist nicht verwunderlich, dass „Lost River“ diese polarisierende Reaktion erfuhr. Seine Geschichte ist nicht weltbewegend interessant, es sind die beeindruckenden Bilder und intensiven Atmosphären, in denen sich das Werk suhlt. „Schöne Bilder, aber wenig Inhalt“ ist ein beliebter Angriffspunkt, den sich vor ein paar Jahren auch Refns „Only God Forgives“ in Cannes gefallen lassen musste, der auffällig ähnlich rezipiert wurde, hauptsächlich für dieselben Tugenden und Mängel. Tatsächlich wirkt „Lost River“ häufig wie eine träumerische Version von Refns letzten Werken, diese Ähnlichkeit kann einem sauer aufstoßen, als Fan der Ästhetik freut man sich jedoch über einen neuen Vertreter. Ryan Goslings Film ist zu keiner Sekunde perfekt und kann manch unglaubwürdigen Moment ausschließlich durch die traumartige Stimmung entschuldigen, die dazu verleitet, einige Bilder allegorisch zu verstehen. Er lokalisiert dies aber in einer sehr tragischen amerikanischen Realität, wodurch es schwierig wird, sich in diesem Traum zu verlieren. Wer mit einer „light“-Variante der genannten Einflüsse etwas anzufangen weiß, könnte aber auch mit diesem Werk warm werden.

Autro: Roman Widera

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