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Liebe 1962 (L’Eclisse, 1962) Essay

© STUDIOCANAL Home Entertainment

Über die abstrakten Gemälde von Mark Rothko soll Michelangelo Antonioni einmal gesagt haben, sie seien wie seine Filme: es ginge um Nichts, mit Präzision. Ich glaube nicht, dass Antonioni seinen Filmen mit der Beschreibung „Nichts, mit Präzision“ umfassend gerecht wird. Der Formulierung lässt sich nichtsdestoweniger etwas abgewinnen: eine wahre Aussage über Antonionis Ästhetik.

Das „Nichts“ könnte ein Hinweis sein auf die „leeren Einstellungen“ in Antonionis Filmen, die uns einen Ort der Handlung zeigen, nachdem eine Figur ihn verlassen oder bevor sie ihn betreten hat, in denen die erzählte Zeit stehenzubleiben scheint und wir mit der narrativen Leere, dem Fehlen von Figur und Handlung konfrontiert sind. Eine dieser Einstellungen ist das erste Bild von „L’eclisse“ (dt. „Liebe 1962“): Es zeigt einen Lampenschirm und eine Reihe Bücher auf einem Tisch; auf den Büchern ruht ein Arm, der von rechts ins Bild ragt. Die Kamera hält einen Augenblick diese erste, so gut wie menschenleere Einstellung und schwenkt dann nach rechts, um uns sehen zu lassen, zu wem der Arm gehört: zu Riccardo (Francisco Rabal), der erschöpft in einem Sessel sitzt. Ihm gegenüber steht gedankenverloren Vittoria (Monica Vitti). Das Paar hat die Nacht hindurch diskutiert und vermutlich kein Auge zugetan, nun verbringen die beiden die ersten Minuten des Films damit, das gegenseitige Schweigen ausharrend, in einem Raum zu sein, Rabal sitzend, Vitti unruhig, ständig die Position ändernd. Es geschieht scheinbar – „Nichts“. Doch diese vermeintlich ereignislose Atmosphäre der Langsamkeit, der Trägheit, der quälenden Unschlüssigkeit, die Riccardo und Vittoria durch die erste Szene des Films trägt, ist eine innere Atmosphäre, es ist die filmische Veräußerung eines Seelenzustandes.

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In seinen Filmen transzendiert Antonioni den Neorealismus (in dessen Tradition er zu Beginn seiner Karriere in den 1940er-Jahren erste Dokumentarkurzfilme gedreht hatte) – die Seelenlandschaften seiner Filme sind innerer Neorealismus, so hat es Thomas Christen einmal formuliert. Antonioni ist ein „Bewusstseinsrealist“ (Bernd Kiefer), ein Realist des Bewusstseins der Moderne. Und wie sich an der scheinbar unerträglich gestreckten Leere dieser ersten Sequenz sehen lässt, die das Zusammenfallen nach einer Nacht des hitzigen Diskutierens zeigt, geht dieses moderne Bewusstsein über Worte hinaus – alles ist gesagt worden, und doch hat man das Wesentliche nicht zur Sprache gebracht. Man kann es nicht versprachlichen. Es ist gefangen im vorsprachlichen Intersubjektiven und befreit werden kann es nur durch Antonionis Bebilderung: Seine Filmbilder veranschaulichen etwas, was Sprache nicht veranschaulichen kann.

Vittoria hat das Kaffeegeschirr in die Küche gebracht und lugt um eine Ecke zurück ins Wohnzimmer. Dort sitzt, in einem Sessel, Riccardo und starrt mit totem Blick ins Leere. Neben ihm, auf einer Kommode, ein Ventilator, der monoton den Raum belüftet. Vittoria beginnt, ins Zimmer zu gehen. Sie nähert sich sehr langsam, vorsichtig. Und hier kippt das Neorealistische des Innern ins Irreale. Riccardo sitzt da wie tot und starrt unverändert ins Leere, und Vittoria nähert sich ihm, läuft gerade auf ihn zu, ist voll in seinem Blickfeld – doch er sieht sie nicht. Er sitzt und starrt wie versteinert, wie mumifiziert, auch als sie direkt vor ihm steht. Der Ventilator unterstreicht die Atmosphäre, indem er geräuschvoll von links nach rechts schwenkt, wieder nach links, wieder nach rechts. Dann geschieht plötzlich etwas anderes und die Handlung nimmt wieder ihren Lauf. Der Irrealismus verpufft. Aber für einen kurzen, sehr schönen, sehr cineastischen Moment, hing er in der Luft, der Irrealismus.

Vittoria steht vor Riccardo und schaut ihn an. Der Ventilator ventiliert. Riccardo sitzt und starrt ins Leere. Sein Blick geht nach innen, und mit ihm Antonionis Blick: Er blickt ins Nichts, in ein inneres Nichts, mit Präzision.

Autor: Paul Quast

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