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Brawl in Cell Block 99 (2018/2019) Review

© capelight pictures

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Das deutsche Jugendschutzrecht ist schon ein unnachgiebiger Geselle. In wohl keinem anderen Land Europas kann die Freigabe eines Filmes für Erwachsene aus Gründen der Jugendgefährdung verweigert werden. Wenn in Großbritannien ein Film von der dortigen Prüfstelle BBFC ab 18 Jahren freigegeben wird, so geht man davon aus, dass er nicht für Jugendliche, sondern ausschließlich für Erwachsene geeignet ist. In anderen Ländern liegen die Grenzen noch niedriger: Die höchste Freigabe für Spielfilme in den Niederlanden und in Frankreich ist diejenige ab 16 Jahren. In Deutschland hingegen unterscheidet das Jugendschutzgesetz (JuSchG) zwischen einer Jugendbeeinträchtigung sowie einer einfachen und einer schweren Jugendgefährdung. Filme, die von der deutschen Freigabeinstanz FSK als schwer jugendgefährdend eingestuft werden, erhalten weder für eine Kino- noch für eine Heimkinoveröffentlichung eine Freigabe; Filme, die als einfach jugendgefährdend eingestuft werden, erhalten zwar eine Freigabe „ab 18“ für eine Kino-, jedoch keine für eine Heimkinoauswertung. Nur solche Filme, die für alle Alterskohorten unter 18 Jahren als lediglich jugendbeeinträchtigend angesehen werden, bekommen für das Heimkino die höchste Freigabe. Dies folgt der Annahme, dass es für Jugendliche (potenziell) einfacher ist, einen Film für das Heimkino zu erwerben als einen nur für Erwachsene freigegebenen Film nach einer doppelten Überprüfung (Kasse und Ticketkontrolle) im Kino rezipieren zu können. Doch wäre damit de facto nicht nur das komplette Freigabesystem der Widersinnigkeit ausgesetzt, auch stellt sich im Sinne eines möglichst ungehinderten Zugangs zu kulturellen Erzeugnissen die Frage, warum eine Freigabe für Erwachsene nach Maßstäben der Jugendgefährdung gefällt wird.

Filmen ohne FSK-Freigabe ist aufgrund von Selbstverpflichtungsmaßnahmen deutscher Kinoverleiher und -betreiber eine Kinoauswertung versperrt, allerdings steht es jedem Verleih oder Heimkinolabel frei, seine Filme ungeprüft in den Handel zu bringen. Doch geht damit eine enorme Rechtsunsicherheit einher, denn bei einem später festgestellten Verstoß gegen eventuelle Strafrechtsnormen (beispielsweise § 131 des Strafgesetzbuches, der bestimmte Formen der Gewaltdarstellung unter Strafe stellt), wird kein so genannter „strafloser Verbotsirrtum“ mehr angelegt, so dass man als Verleih daher in vollem Umfang strafrechtlich haftbar gemacht werden kann. Eine Möglichkeit, dem zu begegnen, besteht in einem Gang zur Juristenkommission der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO/JK). Diese kann zwei weitere Kennzeichen vergeben: „SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung“ (im Falle einer einfachen Jugendgefährdung) oder „SPIO/JK: strafrechtlich unbedenklich“ (im Falle einer schweren Jugendgefährdung). Im Gegensatz zu von der FSK freigegebenen Filmen können solche mit SPIO/JK-Freigabe jedoch im Anschluss durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert werden (womit Werbe-, Präsentations- und Verbreitungsverbote sowie folglich die dezidierte Einschränkung der Möglichkeit einer Kenntnisnahme entsprechender Werke einhergehen), im äußersten Fall kann sie gar ein Verbot ereilen, jedoch ist man in diesem Fall als Verleih immerhin vor Strafverfolgung geschützt. Auch wenn die FSK in den letzten Jahren deutlich liberaler wurde, so gibt es immer noch vereinzelt Filme, die mit einer SPIO/JK-Freigabe in den Handel kommen, zuletzt beispielsweise der indonesische Actionfilm „Headshot“ (2016), „Death Race: Anarchy“ (2018) oder eben „Brawl in Cell Block 99“. Dass capelight pictures sich jüngst die Mühe gemacht hat, den mit Kosten verbundenen Gang zur SPIO/JK anzutreten, ist ihnen dabei hoch anzurechnen, da im Falle einer möglicherweise später erfolgenden Indizierung Umsatzeinbußen durchaus im Rahmen des Möglichen sind.

„Brawl in Cell Block 99“ bekam dabei das Siegel „keine schwere Jugendgefährdung“, weist nach Meinung der SPIO/JK also lediglich eine einfache Jugendgefährdung auf. Doch was ist damit gemeint? Ein Blick in § 18 des JuSchG schafft Abhilfe. Dort werden sowohl „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien“ als einfach jugendgefährdend klassifiziert wie auch „Medien in denen
1. Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden
2. Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird.
Der Begriff des Unsittlichen ist mit Blick auf den vorliegenden Film vermutlich auszuschließen, ebenso wie das Anreizen zu Verbrechen oder Rassenhass. Vielmehr dürften Faktoren in Frage kommen, die sich auf die Darstellung von Gewalt beziehen, denn „Brawl in Cell Block 99“ ist ein stellenweise enorm brutaler Film. Doch der Reihe nach: Wie wird das Ganze kontextualisiert?

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Ein Großteil der teils eruptiv auftretenden Gewalt ist erst in der zweiten Hälfte bzw. insbesondere im letzten Drittel des Filmes zu sehen. Zuvor handelt es sich um ein teils durchaus realistisch grundiertes Charakterdrama um den arbeitslos gewordenen Bradley (Vince Vaughn), der beginnt, als Drogenkurier zu arbeiten, auch um seine Ehe zu retten. Nachdem ihn dies wieder finanziell auf Vordermann bringt und seine Frau Lauren (Jennifer Carpenter) schwanger ist, geht jedoch eine Drogenübergabe schief, so dass Bradley ins Gefängnis kommt. Da der Auftraggeber jedoch viel Geld verloren hat, wird Bradley erpresst und muss dafür sorgen, dass er in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt wird, um dort einen Auftragsmord zu begehen. Der Film ist hierbei in kalten, meist blau- oder grünstichigen Bildern gehalten, wobei die Einstellungen in der Regel genau durchkomponiert sind und Musik nur minimalen Einsatz findet. Die Trostlosigkeit des Vorstadtlebens am unteren Ende der Mittelklasse wird greifbar, ebenso die Verzweiflung, die Bradley umtreibt, (wieder) zum Drogenkurier zu werden. Ein latent sozialkritischer Unterton kommt hier zum Vorschein, jedoch nie forciert, sondern stets sehr zurückhaltend und gerade deshalb so effektiv. Die eingestreuten Verweise auf US-Flaggen und Patriotismus unterstützen dabei den Subtext, dass die politischen Strukturen solche Menschen mit ihren Problemen schon lange allein lassen. Bradley ist jedoch kein stereotyper Redneck, sondern trotz seines Hangs zu schnellem Ausrasten (der sich allerdings nie gegen seine Frau richtet) eine zwar einfach gezeichnete, aber dennoch komplexe Figur, die durchweg als Identifikationsplattform dient und taugt.

Nachdem er ins Gefängnis kommt, wandelt sich die Atmosphäre des Filmes, er wird noch düsterer, noch brutaler und teils auf eine stimmige Weise absurd, insbesondere nach Bradleys Transfer in das Hochsicherheitsgefängnis. Dass seine Kleidung hierbei an Gefangene im US-Militärgefängnis Guantanamo erinnert, dass Folter eine Rolle spielt und das Gefängnis auf fast schon entrückte Weise in einer alten Burganlage situiert ist, die auch aus einem Film über Hexenverbrennungen stammen könnte, unterstützen den inquisitorischen Impetus der Vertreter staatlichen Handelns: Hier soll jemand ihrer Meinung nach nicht nur eine Strafe für ein Verbrechen absitzen, hier soll jemand leiden. Dementsprechend ist der Gefängnisaufseher (Don Johnson) auch ein ausgemachter Sadist. Dass die Fehler staatlichen Handelns, die ökonomischen Zusammenhänge, die beispielsweise Bradley erst seinen Job gekostet haben, nicht in den Dialogen erwähnt werden, ist da nur folgerichtig, werden sie doch im gesellschaftlichen Diskurs ebenfalls tagtäglich ausgeblendet. Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht vorkommen, nur thematisiert „Brawl in Cell Block 99“ sie trotz seiner teils schockierenden Heftigkeit schlicht deutlich subtiler.

Zu der abgründigen Stimmung passt das Auftreten von Vince Vaughn als Bradley. Meist bewegt er sich auch in emotional schwerwiegenden Momenten mit äußerster Ruhe und seine Fähigkeiten im Nahkampf sind derart bemerkenswert, dass sie auch nicht mit einem Verweis darauf erklärt werden können, dass er mal geboxt habe. Es gibt einiges an Schlägereien in diesem Film und wenn Bradley kurzerhand drei Gangmitglieder auf dem Gefängsnishof ausschaltet, dann ist das nicht nur exzellent choreografiert, ohne dabei in Martial-Arts-Unsinn abzugleiten, zudem tragen die meist statischen Bilder zu einer Form des Realismus bei, wo eigentlich keiner zu finden ist. Regisseur S. Craig Zahler schneidet nicht wie wild umher, sondern beobachtet scheinbar die Gewalthandlungen von außen. Die entsprechenden Szenen entwickeln auf diese Weise eine ganz eigene Kraft, so dass sich die erstaunlichen Kampfkompetenzen Bradleys in das teils irreal scheinende und doch nie den Kontakt zur Realität verlierende Szenario vollkommen einpassen. Der Film ist in der Folge auch deshalb enorm geradlinig erzählt, hält sich nicht lang mit Nebenschauplätzen auf, sondern fokussiert sich maßgeblich und sehr wirkungsvoll auf das Ausarbeiten seiner Story.

Zurück zur Jugendgefährdung. Gerade einige Auseinandersetzungen gegen Ende des Filmes sind von enormer und sehr drastischer Brutalität gekennzeichnet, die jedoch niemals in die Länge gezogen wird. Die Folgen der Gewalt werden letztlich realistisch bebildert und eigentlich ist doch genau dies wünschenswert: Gewalt in ihrer ganzen schockierenden Auswirkung zu zeigen. Ob diese Darstellungen folglich verrohend oder zu Gewalttätigkeit anreizend wirken (ersteres bezieht sich auf die Formung des Charakters, zweites auf mögliche nach außen gerichtete Handlungen), mag bezweifelt werden, zumal das Szenario sehr weit weg von der Lebensrealität deutscher Jugendlicher liegen dürfte. Gewalt wird dabei zu keiner Stelle affirmiert, zumal Bradley stets auf äußere Gegebenheiten reagiert und nicht von sich selbst aus tätig wird. Er ist quasi ein Gefangener der Umstände, seine Wahl ist nur eine Pseudo-Wahl: Verliere alles oder verliere dich selbst.

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Nächster Punkt: Selbstzweckhafte Gewaltdarstellungen? Was auch immer genau darunter zu verstehen ist; so wohnt Film als Medium ein gewisses selbstzweckhaftes Moment stets inne. Die US-amerikanische Filmtheoretikerin Kristin Thompson nannte dies einst den „Exzess“: Ab dem Moment, in dem die Motivation für einen bestimmten filmischen Faktor in den Hintergrund trete oder ganz fehle, könne man von Exzess sprechen. Eine sinnvolle Definition, denn Film ist kein rein erzählendes Medium: Natürlich braucht man Verfolgungsjagden im Actionfilm nicht, um die Handlung zu verstehen, doch stechen sie als ein Moment des Spektakels heraus. Ähnlich verhält es sich mit Momenten der Darstellung von Gewalt, die aus Gründen falsch verstandener Moral im öffentlichen Diskurs deutlich öfter angegangen werden. Eine drastische Darstellung von Gewalt greift indirekt auch den Körper des Zuschauers an, gegen derart somatische Empfindungen kann man sich kaum wehren. Die Kunst kontrolliert folglich den Körper, ein Dorn im Auge kulturkonservativer Apologeten, die andersherum am liebsten die Kunst kontrollieren würden, damit ja nichts Subversives an die Oberfläche drängt.

Nun thematisiert „Brawl in Cell Block 99“ jedoch durchaus Selbstjustiz, in welcher Form genau, soll an dieser Stelle aus Spoiler-Gründen nicht ausgeführt werden. Auch hier ist die FSK in den letzten Jahren sehr viel liberaler geworden, so wurde der jahrelang indizierte „Ein Mann sieht rot“ (1974) kürzlich vom Index gestrichen und in der Folge ab 16 Jahren freigegeben. Auch Filme wie „96 Hours“, „John Wick“ oder „The Equalizer“ wären vor 20 Jahren garantiert nicht unbeschadet durch die Altersfreigabeprüfung gekommen. Warum also „Brawl in Cell Block 99“? Ein nicht ganz von der Hand zu weisendes Argument ist hierbei, dass in den genannten drei zeitgenössischen Beispielen die Selbstjustiz ausübenden Akteure stets Ex-Auftragsmörder, Ex-Agenten oder Ex-Polizisten waren und somit in einen eindeutig der Realität enthobenen Kontext gestellt wurden. Dies ist zwar bei „Ein Mann sieht rot“ schon anders, doch dürften hier veränderte Zeitumstände eine Rolle gespielt haben. Bradley hingegen ist letztlich ein normaler Bewohner suburbaner Gegenden, auch wenn seine Fähigkeiten wie erwähnt in einigen Fällen (bewusst) über ein realistisches Maß hinausgehen. Doch dürfte das letzte Drittel des Filmes nicht zuletzt wegen seiner teils irrealen Stimmung wiederum keine Überschneidungen zur bereits erwähnten Lebensrealität von Jugendlichen aufweisen. Auch kommt hier wieder die Frage nach einer Wahl an Handlungsmöglichkeiten zum Tragen: Natürlich hat Bradley eine Wahl, doch ist diese Wahl erneut eine Nicht-Wahl. Sie steht sinnbildlich für das Scheitern staatlicher Strukturen, hier maßgeblich repräsentiert durch den Strafvollzug, und für ein Misstrauen gegenüber der momentanen Ausformung solcher Strukturen. Die Frage ist, ob eine politische Kontextualisierung an dieser Stelle nicht sinnvoll wäre und seitens der jugendschutzrechtlichen Institutionen ermöglicht werden sollte. Anstatt dort jegliches Misstrauen gegenüber staatlichen Strukturen als Untergraben der eigenen demokratischen Struktur zu bewerten (was in dieser simplifizierten Kausalität zudem keinesfalls stimmt, man kann staatliche Strukturen kritisieren und gleichzeitig für demokratische Strukturen plädieren), könnte man die Gründe für eine solche Kritik elaborieren, bewerten, erarbeiten, selbst dann, wenn man ihnen nicht zustimmt. Das reflexhafte Beargwöhnen von Selbstjustiz scheint jedoch mit einer Angst vor der eigenen Courage zusammenzuhängen: Denn wenn unser demokratisches Gemeinwesen nicht in der Lage ist, mit solchen kulturellen bzw. filmischen Tendenzen offen umzugehen, sie sachlich einzuordnen und gegebenenfalls argumentativ an sich abprallen zu lassen, dann sollten wir uns Gedanken über die Verfasstheit und Stabilität unserer Gesellschaft machen. Vielleicht ist „Brawl in Cell Block 99“ in der Tat an einigen Stellen zu explizit bzw. drastisch in seiner Darstellung, um ihn Jugendlichen zugänglich zu machen. Dann ist er jedoch weder verrohend noch zu Gewalttätigkeit anreizend, sondern eher potenziell traumatisierend. Nicht für jeden, aber die Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden. Vielleicht sollte man Jugendschutz weniger nach außen auf den Rest der Gesellschaft richten, sondern eher nach innen und einfach wörtlich nehmen: Die Jugend schützen, vor Einflüssen, die nicht ganz stabile, weil noch in der Entwicklung befindliche zerebrale Strukturen schädigen können (nicht müssen). Doch liegt der Fehler hierbei im System: Eine Altersfreigabe ab 18, ja. Nur für Volljährige, vollkommen in Ordnung. Doch dann aber 1) ungeschnitten und dies 2) mit dem Segen einer Altersfreigabebehörde, die sich nicht einer skurrilen und latent willkürlichen Trias mehrerer Stufen von Jugendbeeinträchtigung bzw. -gefährdung herumschlagen muss. Man sollte mehr Vertrauen haben, in die Jugend wie gleichermaßen in die Strukturen, die sie hervorbringen. Und wenn man dieses Vertrauen nicht hat: einfach die Strukturen stärken anstatt nur Symptome mit Hilfe kulturpolitischer Einschränkungen zu bekämpfen.

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Die Edition: Nachdem Universum Film zuvor eine geschnittene Fassung mit FSK-Segen veröffentlicht hat, in der jedoch viele Gewaltspitzen und nahezu der komplette Handlungsstrang um das Ausüben von Selbstjustiz fehlten, bringt capelight pictures nun die ungeschnittene Fassung von „Brawl in Cell Block 99“ in der altbewährten Mediabook-Reihe auf den deutschen Markt, mit „leichter“ SPIO/JK-Freigabe, die bis zu einer etwaigen Indizierung sogar frei in den Läden stehen darf, was die innere Logik des JuSchG vollkommen ad absurdum führt (siehe den ersten Absatz), wobei die Wahl zwischen einer 4K-UHD-Blu-ray sowie einer Standard-Blu-ray geboten wird. Das Booklet stammt gewohnt informativ und lesenswert von Marcus Stiglegger, als Bonus gibt es ein Q&A mit Cast und Crew sowie ein Making-Of.

Autor: Jakob Larisch

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