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Blau ist eine warme Farbe (2013) Review

© Alamode Film

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Regisseur Abdellatif Kechiche hat mit „Blau ist eine warme Farbe“ nicht nur den Skandalfilm 2013, sondern auch einen Überraschungserfolg in Cannes hingelegt. Der Film basiert lose auf der gleichnamigen Graphic Novel von Julie Maroh, die die Adaption ihres Werkes heftig kritisierte und vor allem Anstoß an der als obszön wahrgenommenen siebenminütigen Sexszene nahm, welche auch in den Medien kontrovers diskutiert wurde. Zu Beginn stellt der Film wohl am allermeisten selbst die Frage, ob sein skandalöses Potenzial in der expliziten Darstellung lesbischer Sexualität oder der der lesbischen Liebe an sich begründet liegt, denn im Gegensatz zur männlichen Homosexualität, welche in der modernen Gesellschaft weitestgehend arriviert ist, scheint das Lesbischsein noch immer ein (größeres) Tabu darzustellen. Zusätzliche Brisanz erhielt der Film durch die Einführung der „Homo-Ehe“ in seinem Produktionsland Frankreich am 18. Mai 2013, welche von massenhaften Demonstrationen begleitet wurde. Nur fünf Tage später feierte der Film bei den Festspielen in Cannes Premiere und trug nicht nur Regisseur Kechiche, sondern auch den beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux eine Goldene Palme ein.

„Blau ist eine warme Farbe“ handelt von der ersten großen Liebe der zu Beginn der Erzählung 17-jährigen Adèle. Nach einer unerfüllten Beziehung zu einem Mitschüler lernt sie die Kunststudentin Emma auf Erkundungstour in einer Lesbenbar kennen und wird von dieser in die gleichgeschlechtliche Sexualität eingeführt. Die beiden beginnen eine zunächst leidenschaftliche Beziehung, welche über die Zeit zunehmend an Ermüdungserscheinungen leidet und nur fernab von Adèles sozialem Umfeld ausgelebt werden kann.

Zunächst nimmt Kechiche – an das aktuelle Zeitgeschehen anknüpfend – die gesellschaftlichen und familiären Repressalien gegenüber Homosexuellen, speziell Lesben, in den Blick, was der Film sehr eindrücklich anhand von Adèles unfreiwilligem Outing auf dem Schulhof kommuniziert. Während Adèles schwuler Freund in der Gruppe voll akzeptiert wird, ist Adèle gezwungen, ihre Sexualität zu verleugnen und muss sich Vorwürfe sowie Beschimpfungen von ihren Mitschülerinnen gefallen lassen. Die Situation kulminiert schließlich in einer gewalttätigen Auseinandersetzung, was den Höhepunkt des öffentlichen Konflikts ausmacht und einen Kurswechsel des Films nach sich zieht. Mit Fortschreiten der Handlung zieht sich Kechiche auf den privaten Bereich zurück und fokussiert die Beziehung von Emma und Adèle. Während der Film zuvor die Andersartigkeit von Homosexuellen betont hatte, weicht die betonte Differenz den Gemeinsamkeiten von Partnerschaften. Ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung bergen alle Formen von Liebesbeziehungen ähnliches Konfliktpotenzial, sodass wie selbstverständlich eine klassische Rollenverteilung in die Beziehung von Emma und Adèle einkehrt: Adèle kümmert sich um Haushalt und leibliches Wohl, während Emma sich beruflich, das heißt künstlerisch, ausleben kann. Die dominantere Kunststudentin wünscht sich dies auch für Adèle und drängt sie, anstatt ihres „profanen“ Lehrerberufs dem kreativen Schreiben nachzugehen. Die hohen Erwartungen Emmas setzten Adèle, die keine künstlerischen Ambitionen an den Tag legt, unter Druck und stehen paradigmatisch für die grundverschiedenen Lebensentwürfe der Partnerinnen.

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Deren Unvereinbarkeit ist Kern des Konflikts, welcher zuvor bereits durch das Aufeinandertreffen mit der Familie der jeweils anderen augenscheinlich wurde. Emma ist geoutet und wird von ihrer Mutter und dem Stiefvater, welche also ebenfalls bereits aus dem klassischen Familiengeflecht herausfallen, akzeptiert, es wird teurer Weißwein zum Essen getrunken und Austern serviert. Auf die Frage nach Adèles Zukunftsvorstellungen, welche diese mit dem Wunsch nach einem gesicherten und soliden Arbeitsplatz beantwortet, wird latent abwertend reagiert. Den Höhepunkt findet diese Episode in einer Sexszene, welche hemmungslos in allen Zügen genossen werden kann. Der Gegenbesuch in Adèles Elternhaus fällt kontrastreich aus: Emma wird nicht als feste Freundin, sondern Bekannte vorgestellt, die ihr Nachhilfe in Philosophie gibt, auf dem Tisch landen Spaghetti Bolognese und vermutlich günstiger Rotwein, ausnahmsweise wird während des Essens nicht nebenbei ferngesehen. Die Eltern erkundigen sich ebenfalls nach Emmas beruflichen Vorhaben und stellen die obligatorische Frage nach einem Mann an ihrer Seite. In ihren Ansichten geben Adèles Eltern ihr niedrigeres Bildungsniveau und eine konservative Einstellung deutlich zu erkennen, auch wenn sie sich interessiert und höflich zeigen. Die persönliche Selbstverwirklichung spielt für diese nur eine Rolle, wenn die Finanzen durch eine „richtige“ Arbeit abgesichert sind, weshalb die Nachricht vom angeblichen konventionellen Job des imaginierten Freunds von Emma sichtlich mit Erleichterung aufgenommen wird, schließlich könne man als Künstler ja erst Geld verdienen, wenn man tot sei. Als Abschluss des Besuchs fungiert wiederum eine Sexszene, die die Einschränkungen der persönlichen Freiheit zum Ausdruck bringt: Sprichwörtlich unter vorgehaltener Hand weicht das lustvolle Stöhnen von zuvor der Unterdrückung von Emotionen. Hier wie da erweisen sich Adèles sexuelle Erfahrungen als Indikator für ihre Verfasstheit und markieren Zäsuren in ihrem Entwicklungsstand. Die Szenen sind zwar explizit, Aufnahmen des Gesichts sollen aber auch immer wieder den gegenwärtigen Gefühlsstand wiederspiegeln.

Während die erste sexuelle Szene, in der Adele sich selbst befriedigt und an die ihr noch unbekannte Emma denkt, von einer ersten Leidenschaft gezeichnet ist, an die sich aber Tränen einer vermeintlichen Schuld anschließen, ist die nächste und einzige Sexszene mit einem Mann trist und frigide, ihr Gesicht verrät eine Leere und Emotionslosigkeit, die Thomas nicht füllen kann. Die ersten sexuellen Erfahrungen könnten unterschiedlicher nicht sein und sind Ausdruck ihrer Unentschlossenheit, die Liebe zu Frauen kann sich noch nicht eingestanden werden, was zu einem Gefühl der Schuld und seelischen Unvollständigkeit führt. Ihre erste sexuelle Begegnung mit einer Frau, Emma, wird sehr ausführlich geschildert und geht so nah an die Körper und Gesichter der verschlungenen Frauen heran, wie nichts zuvor, kein Detail wird ausgelassen, die Kamera ist mehr als hautnah dran, scheint sich der Körper zu bemächtigen oder andersherum gehen die Körper der Kamera unter die Haut. Die pure Ekstase resultiert aus der Freiheit, sich ausleben und das verwirklichen zu können, was man sich ersehnt hat. Ohne Barrieren von außen kann Adèle ganz bei sich sein, ohne etwas verstecken oder befürchten zu müssen. Ebenso verhält es sich mit der Kamera, die den Akt schonungslos und ehrlich in sich aufsaugt.

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Eine feministische Sicht auf die weiblichen Körper sollte man nicht erwarten, Regisseur Kechiche setzt die sonst unkonventionell schönen Frauen makellos in Szene und dürfte eine männliche Perspektive auf den lesbischen Sexualität werfen, die vermutlich nicht der Realität entspricht. Kechiche sei es verziehen, denn anders als dem Film vorgeworfen, lässt sich dieser weder auf rein pornografisches Material für ein männliches Publikum reduzieren, noch wirft Kechiche dabei einen herablassenden misogynen Blick auf die Frauen. Was bei der Kritik offensichtlich in Vergessenheit geraten ist, sind die übrigen 172 Minuten, die nicht nur körperlich, sondern auch emotional Intimes auf der Leinwand bannen.

Auch hier ist Kechiche stets nah dran an seinen Darstellerinnen und scheut dabei keinen Blick auf Rotz und Wasser, wenn die Tränen wie Wasserfälle fließen, oder fettige ungekämmte Haare, die strähnig ins Gesicht fallen. Adèle ist immerzu am Essen, stets mit geöffnetem Mund, vielleicht weil es vorab einen Blick der Kamera auf diesen und die Hände zulässt, Werkzeuge mit denen nicht nur gegessen, sondern auch geliebt wird, auch hier herrscht keine falsche Scham vor verschmierten Mündern und schmutzigen Fingern. Eine direkte Koppelung an Sexualität erhält das Essen in Form der Austern, zuvor haben wir erfahren, dass Adèle eigentlich alles isst, sogar den Fettrand vom Schinken, aber keine Meeresfrüchte mag, vor allem Austern, die hingegen mag Emma sehr. Während diese Adèle laut eigenen Aussagen an Rotz erinnern, löst die Konsistenz bei Emma ganz andere Assoziationen aus und siehe da, nach der lesbischen Initiation verschlingt Adèle nach kurzem Vorbehalt beim Familienessen bei Emma ganze drei Austern. Zugegebenermaßen plakativ, aber wirkungsvoll.

Die erst 19-jährige Newcomerin Adèle Exarchopoulos erstaunt mit ihrem zunächst kindlich-naiven Spiel, das nach einer Phase des puren Glücks einem zwar nicht weniger jugendlichen, aber umso ermüdeteren Gesichtsausdruck und blanker Verzweiflung weicht. Überzeugend bietet sie eine ganze Palette an Emotionen dar und verleiht allen Stationen der Beziehung durch ihr Spiel Authentizität. Zu Beginn, als sie sich gänzlich der Liebe zu Emma hingibt und nur noch für die Beziehung lebt, über das langsam einsetzende Gefühl der Taubheit angesichts der Arbeitswut ihrer Freundin, die auch noch neben der Partnerschaft existiert, bis hin zu der Leere, die ohne einen einzigen Lebensinhalt bleibt und dem bitteren Ende voller Lügen und Enttäuschung.

Trotz epischer Ausmaße mit einer Laufzeit von fast drei Stunden erzählt der Film kurzweilig und ohne Längen aufzuweisen. Obwohl sich Kechiche viel Zeit zum Erzählen lässt, verwundern die beiden Zeitsprünge, da sie unvermittelt einsetzen. Wie eingangs erwähnt, beruht „Blau ist eine warme Farbe“ auf einem Comic, neben anderen Verweisen auf Philosophie, Malerei und Literatur dürfte allerdings der immer wieder erwähnte französische Schriftsteller Mariveaux die zweite Hälfte des Films inspiriert haben. Etwas dazwischen ist das Ergebnis: Ein lesbisches Liebespaar, das sich nacheinander verzehrt, aufgrund unterschiedlicher Lebensvorstellungen aber nicht funktionieren kann. Wie modern oder progressiv die Lebensgemeinschaft auch sein mag, sie scheitert an seit Jahrhunderten bestehenden unüberwindbaren Klassenschranken. Die Vernunft siegt über die Leidenschaft.

Autorin: Felicitas Hilge

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