First Cow (Kelly Reichardt, USA 2019)
Wettbewerb
Schon mit „Meek’s Cutoff“ (2010) hat Kelly Reichardt bewiesen, dass sie den Western neu denken kann, mit „First Cow“ macht sie das erneut, wenn auch mit völlig anderem Schwerpunkt. Es geht um eine Männerfreundschaft abseits von Revolverhelden und Outlaws, zwischen dem Bäcker Cookie (John Magaro) und dem Chinesen King Lu (Orion Lee), die in einer kleinen Stadt ein sehr erfolgreiches Backwaren-Business auf die Beine stellen, dafür jedoch die Milch der titelgebenden Kuh stehlen müssen, die wiederum nicht ihnen gehört. Der Film weist dabei mit seiner herausragenden Inszenierung einen distinkten, eigenen und sehr sicheren Stil auf: Wieder im engeren 4:3-Format gedreht verdeutlicht die Regisseurin sehr viel über lange Einstellungen mit langsamen Kamerafahrten und sehr viel durch das filmische Off. Somit steht nicht immer die filmische Aktion an sich im Vordergrund, sondern häufig das Verknüpfen, das Abstrahieren, das Verbinden der verschiedenen visuellen und auditiven Hinweise. Mit Blick auf das Erzählte kommt „First Cow“ allerdings zunächst sehr schwer in die Gänge und ist gerade zu Beginn in den Auseinandersetzungen zwischen Cookie und der Trapper-Gang, zu der er zu diesem Zeitpunkt noch gehört, enorm plakativ: auf der einen Seite die grobschlächtigen, knurrigen Männer, auf der anderen Seite der feinfühlige und schüchterne Cookie. Hier wäre weniger mehr gewesen, da Kelly Reichardt durchaus in der Lage ist, so etwas deutlich hintergründiger und subtiler umzusetzen. Sobald sich die Handlung dann dem Milchklau zuwendet, kommt die Story jedoch in die Gänge, der Film wird temporeicher, er ist zeitweise durchaus lustig und irgendwann auch tatsächlich ein wenig spannend: Wie lange können die beiden das wohl durchziehen, ohne erwischt zu werden?
Irma Vep (Olivier Assayas, F 1996)
On Transmission
Ach ja, die Postmoderne: Es geht um die Kraft des Kinos, um die Grenzen zwischen Kunst und Realität. Hongkong-Filmstar Maggie Cheung spielt sich selbst, sie wird von einem französischen Regisseur, grandios überkandidelt verkörpert von Nouvelle-Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud, nach Paris geholt, um dort die Hauptrolle im Film-Remake eines Stummfilm-Serials zu spielen. Am Set geht alles drunter und drüber, ein vernünftiger Dreh scheint nicht möglich und dann verliebt sich auch noch die Kostümbildnerin Zoé (Nathalie Richard) in Maggie. Der schwarze Latexanzug, den sie auf Geheiß des Regisseurs tragen muss, um ihrem Stummfilm-Vorbild möglichst ähnlich zu sehen, ist mittlerweile nicht zuletzt wegen des entsprechenden Filmposters fast schon ikonisch geworden und Maggie Cheung spielt diese Rolle mit einer Natürlichkeit und gleichzeitig einer Würde, die beeindruckend ist. Der Film, mit dem Olivier Assayas, einer der wohl interessantesten französischen Regisseure, sein Durchbruch gelang, ist auch nach 23 Jahren noch äußerst sehenswert und sehr unterhaltsam.
Pari (Siamak Etemadi, GR/F/NL/BG 2020)
Panorama
Eine simple, aber effektive Prämisse: Was tut man, wenn der eigene Sohn seine Eltern am Flughafen abholen soll, aber nicht kommt? „Pari“ verortet diese eigentlich universelle Frage im Konfliktfeld verschiedener Kulturen und verschiedener Weltbilder; es sind zwei iranische Eltern, die ihren Sohn in Griechenland besuchen, wo er zum Studieren hingezogen war. Während der Stiefvater Farrokh (Shahbaz Noshir) die Suche lieber der Polizei überlassen will und irgendwann aufgibt, lässt Pari (grandios: Melika Foroutan), die Mutter, nichts unversucht, um ihren Sohn zu finden. Dabei wandelt sie sich von der devoten Ehegattin zu einer selbstbewussten und aktiven Frau, was, wenn man es retrospektiv betrachtet, interessanterweise bereits die ganze Zeit in der Rolle angelegt war. Regisseur (und Drehbuchautor) Etemadi zeigt, dass er das Handwerk der Figurenzeichnung beherrscht und legt einen emotionalen, eindringlichen, streckenweise gar packenden Film vor. Die Suche nach dem verlorenen Sohn wird dabei auf stimmige Weise mit einem Porträt des sozial und gesellschaftlich kaputten und zerrütteten Griechenlands kombiniert. Pari und Farrokh geraten in Straßenschlachten zwischen Anarchisten und der Polizei, sie werden getrennt, Pari muss durch die Straßen Athens fliehen, findet Hilfe und schließlich auch vereinzelte Hinweise auf den Verbleib ihre Sohnes. Die Suche beginnt mit ihm, doch enden wird sie schließlich bei ihr selbst.
Autor: Jakob Larisch