Yalda, la nuit du pardon / Yalda, a Night for Forgiveness (Massoud Bakhshi, IR/F/D/CH/L 2019)
Generation
Stephen Kings dystopisches Meisterwerk „Menschenjagd“ trifft das 21. Jahrhundert trifft das iranische Rechtssystem. Eine junge Frau, Maryam (Sadaf Asgari), wurde zum Tode verurteilt, schuldig gesprochen des Mordes an ihrem Ehemann. In einer TV-Show soll sie nun dessen Tochter Mona (Behnaz Jafari) um Vergebung bitten, von deren Urteil es wiederum abhängt, ob Maryam begnadigt wird. Dieser großartige Film spielt als Kammerspiel ausschließlich in den Räumen des TV-Studios und ist teils auf schockierende Weise absurd, wenn etwa die Fernsehsendung permanent für Werbepausen, Liveauftritte von Musikern, Gedichtrezitationen und Zuschauer-Votings unterbrochen wird – obwohl es um das Leben einer jungen Frau geht. Medienkritik geht hierbei Hand in Hand mit der Frage nach Selbstbestimmung, da Maryam permanent von diversen Menschen bevormundet wird und nur gegen große Widerstände ihre Perspektive auf die Dinge sichtbar machen kann. Dabei hilft auch der vollkommen unmögliche Moderator nicht, der ihr permanent nahelegt, sich doch mal zu beruhigen, obwohl Maryam auf emotionale Weise um nicht weniger als ihr Leben kämpft. Es war ein Unfall, beteuert sie, und der Film teilt ihre Perspektive ziemlich uneingeschränkt. Daneben ist es beeindruckend, wie subtil es Regisseur Bahkshi gelingt, das Ganze mit einem Klassenkonflikt aufzuladen und die damit einhergehenden Machtverhältnisse zu kritisieren: Maryam kommt aus einer ärmeren Familie, Mona aus einer reichen. Es sind somit die Wohlhabenden, die auf fatale Weise und in jeglichem Sinne von Eigeninteressen geleitet letztlich willkürlich über das Leben der Armen entscheiden.
Pinocchio (Matteo Garrone, I/F/GB 2019)
Berlinale Special
Matteo Garrone kommt Disney zuvor, dreht eine Live-Action-Version von „Pinocchio“ und lässt damit einen Film auf die Welt los, auf den niemand gewartet hat. Ja, Roberto Benigni spielt mitreißend wie immer, aber alles in allem ist die x-te Verfilmung des italienischen Kinderbuches eine ziemlich dröge Angelegenheit. Das liegt auch an der Vorlage, nur tut Garrone nichts, um die episodische Struktur des Buches irgendwie zusammenhängender zu gestalten. Die reaktionäre Moral, dass man im Leben nur dann belohnt wird, wenn man sich an die Regeln und Vorgaben der Erwachsenen hält (sonst wird es einem schlecht ergehen!), ist auch hier wieder vorhanden, obwohl der Stoff grundlegend genug Potenzial für leicht anarchische Brüche bieten würde. Dass das erzählerische Zentrum der Pinocchio-Figur, die bei Lügen wachsende Nase, nur ein einziges Mal bebildert wird und – das wiegt viel schwerer – er zu einem späteren Zeitpunkt erneut lügt und einfach nichts geschieht, macht den Film nicht besser. „Pinocchio“ ist eintönig, uninteressant und mit seinen entsättigten Sepia-Bildern im wahrsten Sinne farblos.

© by Pallas Film / Match Factory Productions / View Master Films
Im Feuer (Daphne Charizani, D/GR 2020)
Perspektive Deutsches Kino
Die Berlinale kann immer wieder auch eine beruhigende Rückversicherung sein, dass es um das deutsche Kino doch nicht so schlecht bestellt ist, wie man es ob seiner populären Ausprägungen (ja, es geht um euch, Schweigerhöfer und Dagtekin) teils vermuten mag. „Im Feuer“ ist eine Mischung aus Charakterstudie und Kriegsfilm, ein Genre, das hierzulande selten bedient wird: Die kurdischstämmige Bundeswehrsoldatin Rodja (Almila Bagriacik) lässt sich, da sie fließend kurdisch spricht, nach Erbil versetzen, um dort Peschmerga-Kämpferinnen im Kampf gegen den IS auszubilden. Eigentlich sucht sie aber nach ihrer verschwundenen Schwester, was jedoch niemand wissen darf. Der Film elaboriert dabei auf bedachte und ruhige Weise die Figur Rodja und ihre Familienverhältnisse und dreht dann, sobald die Handlung ins Krisengebiet des Nahen Ostens verlagert wird, die Spannungsschraube an, wobei er eine Atmosphäre der Unsicherheit erzeugt, als könne jederzeit alles passieren. Daphne Charizani gelingt ein eindringliches, dabei jedoch angenehm zurückhaltend erzähltes Porträt einer jungen Frau in einem nicht ganz einfachen Spannungsfeld verschiedener Kulturen, verschiedener Traditionen und letztlich unüberschaubar gewordener politischer Verhältnisse.

© déjà vu filmverleih
Nackte Tiere (Melanie Waelde, D 2020)
Encounters
Nach dem Film, vor dem Kino: „Ich bin für so etwas zu alt“, schmunzelt ein älterer Mann. Ob das stimmt, ob man für spezifische Filme überhaupt „zu alt“ sein kann, sei dahingestellt, doch bringt es eine interessante Beobachtung auf den Punkt, die nicht nur etwas mit dem Thema des Filmes zu tun hat: „Nackte Tiere“ weist eine spezifische Ästhetik auf, die anders ist, die nichts mit dem ominösen „digitalen Zeitalter“ zu tun hat, sie ist ungeschliffen, aber dennoch durchdacht, dem Sozialrealismus nahestehend. Sechs Jugendliche, alle haben sie ein kaputtes familiäres Umfeld, wohnen manchmal bei ihren Eltern, manchmal nicht, teilen sich eine On-Off-WG in einem Plattenbau, wenn es zu Hause nicht mehr auszuhalten ist. Der Film stellt eine enge Verbindung zu seinen Figuren her, er verbündet sich quasi mit ihnen und zeigt, wie die Bewegung des German Mumblecore aussehen könnte, wenn sie sowohl sich selbst als auch ihr Publikum als auch die politischen Zustände auf der Welt einmal ernst nähme und nicht diese unsäglich dummen, pseudo-linken Machwerke (wie die Filme von Jakob Lass) drehen würde, die vernachlässigen, dass sich persönliche Freiheit eben nicht unabhängig von den sozialen Verhältnissen denken lässt. Ja, vereinzelt sind auch in „Nackte Tiere“ etwas dick aufgetragene Dialoge vorhanden („Wirst du jemals aufhören, meine Mutter zu hassen?“ – „Nein.“ – „Dann hasst du auch ein Stück von mir!“ – so reden Jugendliche mit Sicherheit nicht), doch dies fällt in der Gesamtbetrachtung keinesfalls störend ins Gewicht. Denn dieser stark inszenierte Film verhandelt die soziale Frage, er zeigt, dass das Leben eben nicht immer „im Flow“ ist, dass es eben nicht immer ein gutes Morgen gibt, sondern dass man mit seinem Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes kämpfen muss, um auf Dauer überleben zu können.
Autor: Jakob Larisch