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Anomalisa (2015/2016) Review

© Paramount Pictures

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Wie Charlie Kaufman seine Geschichten in Produktion kriegt, ist ebenso rätselhaft wie seine Drehbücher selbst. Wahrscheinlich weiß er das selbst, und da sich der Raum für normal budgetierte Independent-Produktionen in den letzten Jahren stark verengt hat, griff er diesmal zum Crowdfunding, um seine Idee einfach direkt von seinen Anhängern finanzieren zu lassen. Sein Konzept ist dieses mal weniger verkopft als die vorherigen Projekte, stattdessen steckt seine zweite Regiearbeit „Anomalisa“ (zusammen mit Duke Johnson) voller Menschlichkeit und Intimität.

Michael Stone ist so etwas wie ein Guru für Menschen, die im Kundenservice arbeiten. Sein Ratgeber „How Can I Help You Help Them?“ ist die Bibel der Branche. Deshalb tourt er durchs Land und hält Reden vor versammelter Anhängerschaft. Morgen soll er einen motivierenden Vortrag in Cincinatti halten, jetzt sitzt er in seinem stillen Hotelzimmer und weiß nicht weiter. Michael scheint dem immer gleichen Alltag, den immer gleichen Menschen überdrüssig. Er ist mittleren Alters und hat eine Vorzeigefamilie, die er eigentlich gar nicht so richtig schätzt. Sehnsüchtig wartet er auf eine Anomalie in all der Gleichförmigkeit, die ihn umgibt. Auf dem Hotelflur scheint er sie entdeckt zu haben – Lisa, ein schüchterner Fan, von dem Stone sofort fasziniert ist. Sie scheint anders als alle anderen, und in Windeseile verlieben die beiden sich. Jedoch bleibt fraglich, wie fest und wahrhaftig diese Liebe in dem unpersönlichen und isolierten Interieur eines Hotelzimmers bleiben kann.

In seinem Kammerspiel zeichnet Kaufman eine ganze Liebesgeschichte in Windeseile. Das Kennenlernen, das Verlieben, eine Welle der Euphorie. Aber auch die Zweifel, die Angst und schließlich den feigen Rückzug. Das alles in einer Stunde, in einem Hotelzimmer. Die Lebensnähe beißt: Ständig beobachten wir Situationen, hören Gespräche mit, die uns so unangenehm vertraut sind, vor denen wir uns am liebsten Augen und Ohren zuhalten möchten, um nicht selbst an ein ähnlich geartetes, persönliches Erlebnis erinnert zu werden.

© Paramount Pictures

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Michael Stone wahrt eine sichere Distanz zu fast allem, aber vor dem unnachgiebigen Blick der Kamera kann er sich nicht verstecken. So bröckelt seine unnahbare Fassade, er verliert buchstäblich sein Gesicht und kann sich, völlig entblößt, unserer Beobachtung nicht mehr entziehen. Und hier wird „Anomalisa“ so richtig interessant: Die Gleichförmigkeit des Alltags wird explizit ausgestellt, alle Stimmen klingen irgendwie gleich, alle Gesichter sehen sich irgendwie ähnlich. Und doch wirft der Film Zweifel an dieser Wirklichkeit auf. Ist die Welt wirklich langweilig, oder sieht Stone sie nur so? Angeblich langweilen sich nur langweilige Menschen. Ob sich Stone mit seinem Kundenservice-Sachbuch verwirklicht hat, bleibt fraglich, und ob eine flüchtige Bekanntschaft ihn aus dem Trott ziehen kann, ebenso. Womöglich steckt nicht die Welt in einer Schleife aus Schablonen und identitätslosen Duplikaten, sondern Michael selbst. Leider sucht er den Fehler in seinem Umfeld und findet dort, natürlich, immer wieder seine erwünschte Bestätigung.

„Anomalisa“ beantwortet keine von all seinen aufgeworfenen Fragen, er gibt uns immer nur Hinweise, lässt die anfangs so klaren Strukturen im Hotelzimmer schnell in sich zusammenfallen. Im Kern ist der Film ein sehr erwachsenes und illusionsfreies Liebesdrama, eine Probe auf die Möglichkeit und Schwierigkeit des Ausbruches aus einem eingefahrenen Leben, dessen einzige Qualität wohl nur noch die Bequemlichkeit bleibt. Charlie Kaufman liefert schon wieder ab und bestätigt sein hohes Prestige im Drehbuchfach.

Übrigens: Die Figuren sind alle Puppen.

Autor: Roman Widera

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